Bei minus 35 Grad auf 4000 bis 5000 Metern über Meer ausharren und warten, warten, warten: Was für viele nach Tortur klingt, ist für den Autor und Abenteurer Sylvain Tesson das Paradies auf Erden. Der Pariser, zu Hause eigentlich ein «leidenschaftlicher Redner», liebt die Stille und Abgeschiedenheit der Bergwelt. Darum sagte er sofort zu, als ihn der Naturfotograf Vincent Munier fragte, ob er ihn auf einer winterlichen Expedition in die Hochebene Tibets begleite – auf den Spuren eines fast ausgestorbenen Tiers: des Schneeleoparden.
Zusammen mit der Tierfilmerin Marie und dem philosophischen Assistenten Leo machen sie sich auf in das Abenteuer. Sie sehen wilde Esel, struppige Yaks, Füchse und Blauschafe, heulen mit den Wölfen. Und sie bewundern die stille Erhabenheit der Tiere, die «Wollust, Freiheit und Unabhängigkeit verkörpern: all das, worauf wir verzichtet haben», wie Tesson in seinem nun auf Deutsch erschienenen Bestseller schreibt.
Eine atemberaubende Landschaft entschädigt sie für die Strapazen in der Eiseskälte: «Im Morgengrauen hob eine gelbe Klinge die Nacht empor, und zwei Stunden später bröselte die Sonne ihre Flecken auf die mit Gras gesprenkelten Steindecken. Die Welt war gefrorene Ewigkeit.»
Die Kraft der Naturin Sprache gegossen
Sylvain Tesson findet glasklare, poetische Bilder für die Schönheit der Berge und lässt sich zu philosophischen Exkursen inspirieren. Seinen Hang zum Pathetischen durchbricht er mit lakonischen Einsprengseln. Und immer wieder hinterfragt der Autor die Rolle des Menschen in der Natur: seine Sehnsucht nach meditativer Stille in einer hektischen Welt, aber auch seine Zerstörungswut.
Und der Schneeleopard? Nach vielen Wochen des Wartens entdeckt das Vierergespann die geschmeidige Raubkatze tatsächlich vor einem Felsvorsprung, und Tesson ist überwältigt: «Sein Fell, Intarsien aus Gold und Bronze, gehörte dem Tag, der Nacht, dem Himmel und der Erde. In ihm spiegelten sich die Kämme, der Firnschnee, die Schatten der Schlucht und das Kristall des Himmels.» Das Ausharren hat sich gelohnt.
Buch
Sylvain Tesson
Der Schneeleopard
Aus dem Französischen von Nicola Denis
192 Seiten
(Rowohlt 2021)