Am Morgen vor dem Wecken der Kinder bereite ich einen Kaffee zu und hole die Zeitung aus dem Briefkasten.
Dann setze ich mich an den Küchentisch, und während ich auf das blubbernde Geräusch der Kaffeemaschine warte, schlage ich die Seite mit den Todesanzeigen auf. Die Namen der Verstorbenen und die zwei Daten, zwischen denen ein Leben liegt, haben eine besondere Wirkung auf mich. Ich kann nicht anders als mir vorzustellen, wie dieses Leben ausgesehen haben könnte. Einmal las ich von einem Mann, der im Alter von 92 Jahren unerwartet gestorben ist. Die Wortwahl stimmte mich froh, denn ich war mir sicher, dass jemand, der mit 92 Jahren unerwartet stirbt, ein hoffnungsvolles Leben gelebt haben muss. Vielleicht ein Erfinderleben. Ein Bastler mit einer Werkstatt, in der niemals Ordnung herrschte. Ein Wanderer, nein, ein Bergsteiger war er – im Herzen bis ins hohe Alter. Umgeben von einer liebenswürdigen Familie mit zahlreichen Enkeln und Urenkeln, deren Namen er manchmal durcheinanderbrachte, und einem Schwiegersohn, der ihn zu einem Bundesligaspiel nach München mitgenommen hat. Mit der Tochter war eine Reise geplant an den Lago Maggiore, doch dann hat der Tod unerwartet einen Schlussstrich gesetzt – unter ein hoffnungsvolles Leben.
Als ich mit der Zeitung zurückkehre, ist der Kaffee fertig. Schon im Treppenhaus hat es angenehm danach gerochen. Mit der Kaffeetasse in der Hand lese ich die Todesanzeigen durch und bleibe dabei an einem Namen hängen: Gertrude.
Ich habe Gertrude kennengelernt bei einem Projekt in einem Altersheim, wo mir die Bewohnerinnen und Bewohner die Geschichte zu ihrem Lieblingsfoto erzählt haben. Obwohl ich mit vielen Menschen gesprochen habe, weiss ich noch genau, welches Gertrudes liebstes Foto war: Ein Schwarz-Weiss-Bild von einem Schweinchen, das in einer Pferdebox im Stroh liegt. Das Foto unterschied sich von den anderen Lieblingsfotos, auf denen meist Menschen, Orte – und falls Tiere, dann ein Hund oder eine geliebte Katze abgebildet waren. «Warum haben Sie dieses Foto ausgewählt, können Sie mir die Geschichte dazu erzählen?» So oder ähnlich muss ich unser Gespräch damals begonnen haben. «Mein Bub hat das Foto gemacht. Das ist die Geschichte», antwortete sie. Ich verstand nicht genau, was sie damit meinte. Sowieso habe ich sie nicht immer auf Anhieb verstanden. Ich musste oft nachfragen und versuchen, ihre Gedanken und Sätze zu einem Ganzen zusammenzufügen.
Ich schliesse die Augen, um mir die Begegnung mit Gertrude besser vorzustellen. Sie sass im Rollstuhl, ihre Haare trug sie kurz, und ich erinnere mich, dass sie sich entschuldigt hat, für unser Treffen keine schönere Bluse angezogen zu haben. Zwischen den Weltkriegen in Österreich geboren, wollte Gertrude nach 1945 nur fort. Der Enge des Dorfes und einer Zukunft in der Schuhfabrik entkommen. Offenbar genoss die Schweiz in den Nachkriegsjahren in Österreich einen guten Ruf – zudem hatte eine Bekannte entsprechende Kontakte und vermittelte Gertrude an eine Bauernfamilie im Emmental. Gertrude erinnerte sich nicht genau, wie alt sie bei ihrer Abreise war. 15? 17?
Gertrude hatte Glück: Sie liebte Tiere – und davon gab es auf dem Bauernhof mehr als genug. Ihr Arbeitgeber, ein Ehepaar mittleren Alters, behandelte sie wie eine eigene Tochter. Gertrude durfte sie sogar mit «Mutter» und «Vater» anreden. Im Kirchenchor lernte sie später einen netten jungen Mann kennen, der sie zum Tanz ausführte, um dann bei ihren Pflegeeltern und am Vorabend der Hochzeit auch bei ihren Eltern, die aus Österreich angereist waren, um Gertrudes Hand anzuhalten. Alle sagten ja und freuten sich. Danach zog Gertrude zum Ehemann und dessen betagter Mutter auf den abgelegenen Hof. Kurz nach dem Tod der Schwiegermutter kam der erste Sohn zur Welt. Dass sie viele Jahre vergebens auf ein zweites Kind warteten, trübte ihr Glück nicht.
«Wir haben das Schweinchen mit der Flasche gefüttert», sagte Gertrude, als ich sie noch einmal auf das Foto ansprach. «Es war von den anderen verstossen worden.»
«Sie und Ihr Sohn?», fragte ich nach.
Sie drehte den Kopf von mir ab, blickte auf die gegenüberliegende Wand und schwieg. Dann sagte sie mit brüchiger Stimme: «Es war unser Pakt, dass es nicht sterben sollte.»
In Gedanken war ich immer noch beim Schweinchen, als Gertrude schon gefasst weitersprach. Kurz vor seinem 30. Geburtstag habe sich ihr Sohn unweit vom Hof mit der Dienstwaffe das Leben genommen. Reflexartig legte ich meine Hand auf ihren Arm – auf diese Wende im Gespräch und in ihrem Lebenslauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Sie habe es nicht kommen sehen, fuhr sie fort. Dass er an Depressionen litt, ja. Dass es so schlimm war – sie schüttelte den Kopf. «Er ist zum Sterben nach Hause gekommen», sagte sie, und an der Art, wie sie dabei meine Hand drückte, hatte ich das Gefühl, dass dieser Gedanke sie beruhigte. Nachdem später auch ihr Mann gestorben war, lebte Gertrude 17 Jahre lang alleine mit ihren Tieren auf dem Hof. Als sie zuletzt nicht mehr für alle sorgen konnte, brachte man sie ins Altersheim. «Ein Leben ohne Tiere kann ich mir nicht vorstellen», hatte sie im Verlauf unseres Gesprächs mehrfach betont. Und dass sie trotz allem ein gutes Leben gehabt habe. Mein Kaffee ist kalt geworden. Ich hole eine Schere, schneide die Todesanzeige aus und denke an Gertrudes Lieblingsfoto. Gertrude ist nicht unerwartet gestorben. Nach dem frühen Abschied von ihrem Sohn, ihrem Mann und ihren Tieren hat sie auf den Tod gewartet. Doch auch sie hat ein hoffnungsvolles Leben gelebt.
Als ich die Schere zurücklege, fällt mein Blick auf die Backofenuhr. Es ist höchste Zeit, die Kinder zu wecken. Ich werde ihnen erzählen, dass ich eine Frau gekannt habe, die gemeinsam mit ihrem Buben ein verstossenes Schweinchen mit einer Flasche aufgezogen hat – bis es gross und kräftig war.
Regula Portillo
Regula Portillo (*1979) wuchs im Kanton Solothurn auf, studierte Germanistik und Kunstgeschichte in Fribourg sowie Buch- und Medienpraxis in Frankfurt am Main. Sie arbeitete mehrere Jahre in Nicaragua, Mexiko und Deutschland. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Bern und arbeitet als Texterin in einer Kommunikationsagen-tur. Kürzlich ist ihr zweiter Roman «Andersland» (Edition Bücherlese) erschienen.