Ein Bass, dumpf wie unter Wasser. Der Beat langsam, klare Snare. So erwachte er. Er hatte noch versucht, den Refrain mitzunehmen, aber als er sie noch mal schliessen wollte, brannten die Augen. In den Ohren pfiff und aus dem Mund sabberte es. Auf ein Schildchen, auf dem ÖGRAS stand. ÖGRAS und CHF 699. Offenbar war er eingenickt. Eigentlich hatte er raus gewollt, mit der Familie, statt im Studio zu sitzen. In den Wald oder den Park, aber dann sagte sie: «Wir sollten mal wieder zu Ikea.»
Von Nur-schnell-die-Augen-schliessen bis zum komatösen Tiefschlaf braucht es wenig, wenn man fertig genug ist. Da reicht ein kurzer Moment, deswegen heisst er ja auch Sekundenschlaf, wegen dieses Übergangs. Gepennt hatte er bestimmt länger. Er setzte sich auf, brachte Frisur und Jacke in Ordnung und fand wieder zu sich. «Der begnadete Klangtüftler lebt und arbeitet in Zürich und Berlin.» Genau: «lebt mit Frau und Tochter» hatte das Management wieder rausgenommen, fürs Gefühl von Verfügbarkeit. Und jetzt fehlten die beiden nicht nur in seiner Bio, sondern auch da drin. «Falls wir uns verlieren, treffen wir uns, wo wir uns zuletzt gesehen haben», hatten sie der Kleinen eingebläut, als sie nicht ins Paradies hatte gehen wollen. Wo genau das gewesen war, allerdings, wusste er nicht mehr. Totale Leere, überall. Ein Kindertraum eigentlich: allein in einem Warenhaus. Aber bestimmt nicht in der Ikea. Und schon gar nicht, wenn jetzt auch noch das Licht ausgeht. Verflucht! Er stand auf und klaubte das Telefon aus der Jeans. Mit «kein Netz» und drei Prozent Akku würde er hier nicht wieder rausfinden. Scheisse. «Scheissunkraut», genau! Das hatte er ihr noch gesagt, als sie sich zum letzten Mal gesehen hatten, bei den Glücksbambussen. «Das ist doch Unkraut. Dort, wo die herkommen, ist das unnützes Unkraut, so wie der Brokkoli in Italien.» «Du meinst Rucola», sagte sie, und er «ja, eben, Unkraut».
Jetzt hatte es plötzlich auch hier Musik. «Every breath you take», aber in einer dieser Liftmusik-Versionen. Mit Panflöte statt Sting. Dank den Standby-Lichtern der Überwachungskameras konnte er die räumlichen Dimensionen wieder abschätzen. «Mit seinem lang erwarteten zweiten Album startet er in eine neue Zukunft.» Dabei war es noch nicht mal fertig. Zwei Songs hatte er und tonnenweise Selbstzweifel. «Sein neuer Sound vermittelt dieses optimistische Gefühl von Zuversicht.» Langsam konnte er Umrisse ausmachen in der Dunkelheit. Ein Cocktail aus Realität und Projektion mit Panflöten-Soundtrack. Viel zu laut, viel zu schrill. Er drückte sich die Ohren zu und versuchte, sich Mut einzureden. Doch er wusste nicht wie, konnte kaum denken. Aber fühlen. Er spürte, wie ihm etwas um die Schuhe schlich, geschmeidig wie eine Katze, nur kleiner. Und länger. Zwischen den Beinen durch und an ihnen hoch züngelte es. Statt entspannt zu bleiben, einen Schritt zurück zu machen und aus der Schlinge rauszuschlüpfen, bekam er Angst. Er kickte um sich, packte, was ihm in die Finger kam, und begann, hysterisch daran zu reissen. Doch Bambusblätter schneiden verfluchter als Papier. Oben liefen die Tränen, zwischendrin das Blut und unten begann das elende Dreckskraut, ihm in die Hose zu kriechen. Die Beine hoch, um die Hüfte und den Oberkörper, bis ganz hinauf zum Hals. Wie eine Würgeschlange schnürte es ihn ein, so lange und so eng, bis er komplett regungslos da stand. Gelähmt von einer Lifestyle-Pflanze. Dann fiel er um wie ein Mikadostäbchen. Aus Bambus, allerdings.
So lag er am Boden, stundenlang und immer wieder gefährlich nah an der Bewusstlosigkeit. Bis die Luft anfing, nervös zu zucken. Überall ein zittriges Flimmern. Ein physisch spürbares Vibrieren mit einem grauenhaft unangenehmen Rüttelton. Dazu ein schmerzhaft ätzender Gestank, nach Chemie und Tod. Er erinnerte sich wieder an die FREE HOT DOG DAY-Schilder, die am Eingang von der Decke hingen. Weil er sich da gefragt hatte, weshalb ausgerechnet Hot Dog das Einzige war, was nicht auf Schwedisch angeschrieben war, und weil es da schon so gestunken hatte. Er wurde auf einen Schlag Vegetarier, Knall auf Fall. Aus tiefster Überzeugung zwar – doch eindeutig zu spät. Zum Unterwasserbass tänzelnd, der nun wieder zu geifern begann, tauchte einer dieser stinkenden Ein-Franken-Hot-Dogs auf, unmittelbar vor seinem Gesicht. Ein monströser, gut zehn Meter langer Alien aus püriertem Tierkadaver, aufgedonnert mit Geschmacksablenker, haltbar gemacht bis zum letzten Gericht, in einen künstlichen Darm gestopft und eingeklemmt in ein überzuckertes Soft-Porno-Brötchen. Das Ding war so nah, dass ihm die Augen zu tränen begannen ob des Gestanks. Und als er den Mund öffnete, weil er sich übergeben musste, schoss ihm die Schweinerei in den Hals, hinunter in die Speiseröhre, von dort zum Magen und in sämtliche Därme, bis er wieder voll war. Vollgestopft mit tierischem Abfall, zusammengeschnürt von einem Zwirbelbambus, wehrlos auf dem Boden einer stockfinsteren Ikea-Filiale. Die vor Angst weit aufgerissenen Augen drückte er reflexartig zu, als er merkte, dass etwas hinein tropfte. Aber da war der Senf schon drin.
Als er wieder erwachte, brannten seine Augen. In den Ohren pfiff und aus dem Mund sabberte es auf ein Schildchen, auf dem ÖGRAS stand.
ÖGRAS, das heisst auf Schwedisch Unkraut.
Zalando, übrigens, ist Portugiesisch für: Entweder du kaufst deine Schuhe in einem richtigen Geschäft, oder du hörst auf, wegen Staus zu jammern, irgendwie muss der Plunder ja hin und her gekarrt werden. Aber das ist eine andere Geschichte.
Reeto von Gunten
Reeto von Gunten (1963) wuchs in Steffisburg bei Thun auf. Nach dem Lehrerdiplom zog er für zwei Jahre nach New York und besuchte die Schauspielschule. Danach arbeitete er einige Jahre als Primarlehrer und moderierte fünf Jahre die Morgensendung bei Radio SRF 3, wo er noch immer sonntäglich die Morgensendung bestreitet. Heute arbeitet er als selbständiger Autor und Künstler und ist schweizweit auf Kleinkunstbühnen unterwegs, zurzeit mit der multimedialen Lesung «Single». Reeto von Gunten ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er lebt in Zürich.
Lesungen
Mi, 9.1., 20.00 Kreuz Herzogenbuchsee BE
Fr, 11.1., 20.15 La Marotte Affoltern a. A. ZH