Als habe er einen seltenen Vogel gesehen, deutet Reeto von Gunten plötzlich in den Zürcher Himmel. «Die machen dort ein Fotoshooting.» Tatsächlich ragen auf der Terrasse eines nahen Hochhauses Stative in die Höhe. Von Gunten entschuldigt sich sogleich für die Unterbrechung des Gesprächs. Dabei verübelt man ihm diesen Einwurf zuletzt – ihm, der die Welt aufmerksam wie ein Ornithologe mustert und seine Entdeckungen stets teilt. Denn mit seinen Diaabenden begeistert der Autor und Radiomoderator sein Publikum seit über zehn Jahren. An diesen zeigt der Berner Fotoprojekte und Schnappschüsse skurriler Beobachtungen; kommentiert sie witzig, lakonisch. Gerade tourt er mit der vierten Auflage «Alltag Sonntag».
An einem frischen Sommermorgen ist Reeto von Gunten mit seiner schwarzen Vespa vorgefahren. Wer aufmerksam ist, sieht in ab und an so durch Zürich knattern. Etwas finster sieht er manchmal aus. Die Sonnenbrille? Der Stadtverkehr? Am Tischchen vor der Pelikanbar sitzt dann aber doch jener Mann, der einem aus SRF-3-Moderationen und Bühnenprogrammen vertraut erscheint: Bald dringt sein Schalk durch, bald spürt man seine Freude an der Sprache. Von Gunten modelliert Wörter wie «Knusprigkeitsverlust» und sagt Sätze, deren Rhythmus einem danach noch lange im Ohr bleiben.
«Jeder hat Zeit, jeden Tag etwas Sonntag zu haben»
Bald ist da auch der Geschichtenerzähler. Etwa, wenn von Gunten über seinen jüngsten Diaabend spricht. Von seiner Zeit als Lehrer berichtet er und von einem Schüler, der an einem Montag nur rumlag – gerädert von einer Party am Wochenende. Als Zeitstrahl habe er ihm die ganze Woche auf die Wandtafel gezeichnet: Schau, neben dem Samstagabend könnte noch so viel mehr deines Lebens «fäge». Und darum gehe es ihm eben auch bei «Alltag Sonntag». «Ich möchte den Menschen neue Perspektiven aufzeigen. Jeder und jede hat ein klein wenig Zeit, jeden Tag etwas Sonntag zu haben.»
Wie er das meint, darüber lassen seine Diaabende keine Zweifel. Von Gunten zeigt Fotos, die vom komischen Potenzial des Alltags erzählen und dabei viel über uns Menschen aussagen. Da stehen Bagger der Grösse nach aufgereiht. Da zeugen unzählige Trampelpfade in Siedlungen von der ewigen Verlockung des Abkürzens. Von Guntens Programme sind Beweisführungen dafür, dass sich ein neugieriger Blick an jedem Tag lohnt. Und oft genug kommen seine Plädoyers an: «Meist geht es ein, zwei Tage, dann schicken mir die Menschen Bilder von eigenen Entdeckungen», sagt er. «Das ist ein schöner Moment.»
Wenig später sitzt Reeto von Gunten wieder auf seiner schwarzen Vespa und knattert davon. Irgendetwas Skurriles wird ihm auf der Fahrt durch Zürich auffallen. Bestimmt.
Alltag Sonntag
Di, 22.9., 20.00 Casinotheater Winterthur ZH
Weitere Termine: www.atelieer.ch
Reeto von Guntens Kulturtipps
Buch
Colson Whitehead: Die Nickel Boys (Hanser 2019)
«Weil sich Ideale und Skepsis aneinander reiben und die daraus entstehenden Konsequenzen unvorhersehbar sind.»
DVD
Bong Joon-ho: Parasite (Koch Media 2020)
«Weil die Abgründe der kapitalistischen Gesellschaft anhand von zwei Familien erzählt und dabei kein Genre ausgelassen wird.»
TV-Opernübertragung
Marina Abramovic: 7 Deaths of Maria Callas
«Weil die besten Dinge oft die sind, die man wohl gar nie sehen wird.»
www.arte.tv