Die langen Abende, an denen ich mit krummem Rücken über der soundsovielten Version des Manuskripts brütete, sind vorbei. Selbstzweifel, Versagensängste, Wut über das eigene Unvermögen – all das scheint fürs Erste überstanden. Das Gedankenkarussell, das sich in den letzten Monaten unaufhörlich um den Plot und die richtige Erzählperspektive drehte, steht nun endlich still. Bei der Publikation dieser Carte Blanche liegt mein Roman – es ist mein allererster Roman – druckfrisch in den Buchhandlungen, gleich neben den Büchern von Ruth Schweikert und Peter Stamm (wenn auch nur des Alphabets wegen). Damit geht für mich ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung. Und was fühlt man, wenn sich ein lang gehegter Wunsch erfüllt? Glück! Mit Glück hatte ich gerechnet. Mit was ich nicht gerechnet hatte: Scham, Wut, Unsicherheit und noch mehr Scham.
Noch am Tag der Veröffentlichung, es ist ein Mittwoch, schreibt mir eine entfernte Bekannte – eine tolle Frau und engagierte Body-Respect-Aktivistin – dass sie mein Buch gekauft und bereits mit der Lektüre begonnen habe. Erst freue ich mich über ihre SMS, dann fällt mir siedend heiss ein, dass eine meiner Figuren stark übergewichtig ist. Diese Figur heisst Melanie. Melanie habe ich nicht nur ein paar Extrakilos, sondern auch eine unangenehme Stimme auf den Leib geschrieben. Und ein Lästermaul, das es den Leserinnen und Lesern schwer macht, sie zu mögen. Ich habe es also geschafft, aus einer dicken Figur eine dicke und doofe Figur zu machen. Stigmatisierung vom Feinsten. Was zum Geier habe ich mir nur dabei gedacht? Die ehrliche Antwort ist: nichts. Und dafür schäme ich mich.
Am Donnerstag suche und finde ich mein Buch in sämtlichen Buchhandlungen, an denen ich vorbeikomme. Und ja, ich gebe es zu, ich nehme dafür zahlreiche Umwege in Kauf. Wie selbstverliebt muss man bitte sein, wenn man sich nicht sattsehen kann am Anblick des eigenen Buchcovers auf einem Verkaufstisch? Das ist mir ein wenig peinlich. Hauptsächlich aber bin ich stolz wie Oskar.
Am Freitag setzt eine Kollegin einen Facebook-Post ab, in dem sie ihren zweieinhalbtausend Followern verkündet, dass sie es zwar noch nicht gelesen habe, sie aber sicher sei, mein Roman sei richtig, richtig gut. Was für ein Kompliment von einer der klügsten Frauen, die ich kenne! Sie ist eine brillante Journalistin, spricht fliessend Russisch und Türkisch und alle europäischen Sprachen sowieso. Ich habe den leisen Verdacht, dass sie über alle sprachlichen Unzulänglichkeiten dieser Welt erhaben ist. Ich lese also ihren Post – bin sehr gerührt und dankbar – und denke gleichzeitig an die Schreibfehler in meinem Roman. Auf der Seite 112 steht ein Wort zu viel, zehn Seiten weiter dafür eines zu wenig, und auf der Seite 158 habe ich einen Namen vertauscht. Und weil diese Schreibfehler alles andere als «richtig, richtig gut» sind, möchte ich am liebsten im Erdboden versinken.
Meine Schwester ruft mich am Samstag an und erzählt mir, dass sie angefangen habe, mein Buch zu lesen. Meine Schwester und ich sind in einem Baselbieter Dorf aufgewachsen. Von diesem Dorf habe ich mir für meine Geschichten Strassen- und Flurnamen ausgeliehen. Personen auch. Den Metzgermeister Tschudin zum Beispiel. Als ich ein Kind war, stand der stets in seiner Metzgerei im Zentrum des Dorfes, weisse Schürze, laute Stimme, Finger wie die Würste, die sich in der Fleischauslage stapelten. Seither heisst für mich der idealtypische Metzger eben Tschudin. Der Tschudin in meinem Buch ist ein armer «Tscholi». Er wird ab und an von seiner Frau verhauen und des Nachts aus dem Haus verbannt. Dann schleicht er frierend durchs Dorf und hofft, dass ihn niemand sieht. Das habe ich mir ausgedacht. Alles in meinem Buch habe ich mir ausgedacht. Ich weiss das. Aber weiss das auch meine Schwester? Oder wird sie denken, ich hätte Dorfgeheimnisse in die Weltgeschichte rausposaunt? So geheime Geheimnisse, dass nicht einmal sie davon wusste? Dieses Missverständnis hätte ich verhindern können, wenn ich meinen Metzger einfach Müller, Hertner oder Gysin genannt hätte. Das habe ich aber nicht, und jetzt ist es zu spät. Das ärgert mich.
Am Sonntag passiert gar nichts. Niemand interessiert sich für meinen Roman.
Am Montag passiert wieder nichts. Es interessiert sich noch immer niemand für meinen Roman. Ich denke in einem leichten Anflug von Panik, dass sich vielleicht nie wieder irgendjemand für meinen Roman interessieren wird.
Am Dienstag schreibt mir dann der Mann, den ich vor einem Jahr kennen und lieben gelernt habe, dass er mein Buch lese. Das schmeichelt mir. Bis er auf die Prostituierte in Kapitel neun zu sprechen kommt. Ihr Name ist Chantal. Chantal unterteilt ihre Kunden in solche, die Hosen, Hemd und sogar Socken vor dem Sex sorgfältig zusammenlegen (die Falter) und solche, die sich ihre Kleider vom Leib reissen und an Ort und Stelle liegen lassen (die Werfer). Der Mann, den ich vor einem Jahr kennen und lieben gelernt habe, schreibt mir, dass er vermutlich ein Werfer sei. Das stimmt, er ist ein Werfer. Ob er das lustig oder einfach nur doof findet, schreibt er nicht.
Am Mittwoch meldet sich der Verlag bei mir. Voraussichtlich kommt mein Roman ins Fernsehen – als Buchtipp ganz am Ende des SRF-«Literaturclub». Ich könnte die ganze Welt umarmen, so glücklich bin ich. Just in diesem Moment schreibt mir meine Schwester eine SMS. Sie sei entsetzt. Nie hätte sie vermutet, dass der Metzgermeister Tschudin von seiner Frau schlecht behandelt wird …
Rebekka Salm
Rebekka Salm ist 1979 in Liestal geboren und lebt heute in Olten. Sie hat Islamwissenschaften und Geschichte studiert und ist als Texterin, Moderatorin und Erwachsenenbildnerin tätig. Kürzlich ist ihr Debütroman «Die Dinge beim Namen» bei Knapp erschienen. Am Do, 21.4., 20.30, feiert sie in der Buchhandlung Orell Füssli am Zürcher Bellevue Buchvernissage, moderiert von Schriftsteller Alex Capus. Weitere Lesungen: www.rebekkasalm.ch