Es ist am Ende von «What a Wonderful World», als wir den Faden komplett verlieren. Und wenn ich sage wir, meine ich sie: Die Pianistin, nennen wir sie Christine, drückt besorgniserregend willkürlich Tasten und tarnt den Blindflug als Abstecher in den Jazz. Der Flötist spielt todesmutig ein paar abschliessende Noten, ich bin wie versteinert. Schweige, obwohl ich sin - gen müsste, und wiederhole in Gedanken wie ein Mantra: «Schlimmer kann dieses Konzert nicht werden.»
Die Bruchlandung bahnte sich schon Wochen zuvor an. Die Kommunikation im Vorfeld des Konzertes war erratisch, mein Auftrag stetig unklarer. Irgendwann resignierte ich: Sag einfach du, was ich singen soll. Ich mache alles für dich, wenn du mich nur nicht mehr anrufst. Und wenn du mir noch ein einziges Mal weismachen willst, wie schnell ich dieses oder jenes zusätzlich gewünschte Stück einstudiert hätte, schreie ich.
Zwei Stunden vor dem Konzert betrete ich die Kirche für unsere erste und einzige Pro be. Christine sitzt am Flügel und empfängt mich trotz meinen leicht genervten letzten Nachrichten sehr herzlich. «Ich war nicht sicher, ob das die richtige Kirche ist», sage ich im Plauderton, erleichtert über ihre Wärme. Sie antwortet: «Ja, ich kam auch etwas früher.» Und ungefähr so kohärent geht es weiter. Christine redet gern. Sie redet laut und ohne Punkt und Komma und nimmt bewundernswert viel Raum ein. Christine entertaint.
Natürlich bin ich heimlich beeindruckt, von der weiblichen Sozialisierung ist bei ihr offenbar nicht viel hängen geblieben. Es wirkt, als sei ihr vollkommen egal, wie es den Menschen um sie herum geht, wie diese sie finden oder ob sie gemocht wird. Christine sendet. Sie sendet wie keine Zweite, nur empfangen wird allem Anschein nach nichts.
Die Probe läuft ungefähr so ab: Christine wählt ein Stück, das sie direkt zu spielen beginnt, während der angejahrte Flötist noch die Noten sucht. Parallel zum letzten Ton geht es weiter mit der verbalen Inkontinenz. Christine bestimmt Kürzungen, die sie später nicht einhalten wird, und stellt Fragen, deren Antworten sie nicht abwartet. Nein, sie redet schon wieder über das nächste Stück, greift beherzt in die Tasten, und die Verzweiflung des Flötisten geht von vorne los.
Als sich dieser traut, eine Unklarheit zu äussern, plappert sie ihn in Grund und Boden und verwirrt ihn nur noch mehr. Christine haut eine rekordverdächtige Anzahl Wörter pro Minute raus, während kein Mensch in Hörweite auch nur einen einzigen Gedanken fassen kann. «Du bist doch Jazzer», sagt sie schliesslich, «spiel einfach irgendwas.» Es folgt das vermutlich unterprobteste Konzert meiner Karriere. Schon im ersten Stück pfeift der Flötist aus dem letzten Loch und setzt damit den Ton des Vormittags.
Und dann kommt Christines erste Ansage, und reden – ich glaube, das haben wir etabliert –, reden kann Christine. Sie blüht auf und ist plötzlich die Standup-Comédienne, die sie eigentlich die ganze Zeit schon war. Sie interagiert mit dem Publikum, scheint eine Show zu moderieren, bezieht mich manchmal spielerisch mit ein. Dem Flötisten hat sie in der Probe zwar eine Anmoderation versprochen, das Mikrofon jedoch bleibt in ihrem eisernen Griff. Mein Job ist singen, also singe ich. Frühlingslieder, von Christine ausgewählt.
Manchmal geht das verhältnismässig gut, aber mehr als einmal verblättert sie sich auf ihrem iPad und kommt komplett vom Weg ab. Dieser Umstand ist umso absurder, als sie sich in der Probe mehrfach über den Flötisten und mich lustig gemacht hat: Wir seien mit unseren Papierkopien ja total out! Während einer Instrumentalnummer fängt Christine urplötzlich an zu singen, es scheint geradezu aus ihr herauszubrechen (vielleicht waren ihre Stimmbänder zu lange ausser Betrieb?), und mit dünner Stimme krächzt sie ein paar Takte mit.
Nicht das einzige Mal an diesem Vormittag investiere ich meine gesamte Energie in ein mildes, entspanntes Lächeln. Ich glaube die fragenden Blicke des Publikums auf mir zu spüren: «Hat die Sängerin ihren Einsatz vergessen?» Dem Publikum allerdings geht es während alldem wunderbar.
Gut 50 Menschen, die allesamt aussehen, als seien sie aus dem Altersheim ausgebüxt (ausser einer strahlenden 20-Jährigen, von der ich meinen ungläubigen Blick kaum abwenden kann), wippen mit ihren arthritischen Körperteilen und blicken vergnügt in Richtung Bühne. Offenbar vertrauen sie Christines überschwänglichen Eigenlobeshymnen mehr als ihrem eigenen Urteilsvermögen. Womit wieder einmal bewiesen wäre: Mit genug Selbstvertrauen kann man alles als gut verkaufen, auch diesen Verkehrsunfall unter den Vormittagskonzerten.
Es ist einer dieser Momente, die man zwar absolut entsetzlich findet, einen aber gleichzeitig mit einer kleinen Vorfreude auf künftiges Nacherzählen erfüllen. Man möchte im Boden versinken und denkt parallel: Schon geil, was einem das Leben manchmal auftischt. Vielleicht ist es das, was mich nicht vollständig verzweifeln lässt. Wie eine Sterbende verlasse ich meinen Körper und verfolge das Geschehen aus etwas Distanz. Das Klavier, Christine, der Flötist, das Publikum … Und mittendrin ich.
Etwas kleiner als sonst und mit dieser kaum sichtbaren Angespanntheit einer bühnengeschulten Persönlichkeit. Beim Schlussapplaus, den entgegenzunehmen ich mich kaum traue, übergibt uns Christine eine Rose. Es ist keine echte Rose, Christine hasst Schnittblumen, das hat sie uns zuvor bereitwillig und detailreich erklärt. Die schmeisse man ja eh nur weg, erfährt jetzt auch das Publikum, und Abfall sei doof. Nein, diese Rose besteht aus Schokolade. Und einer Alufolie. Und einem aufwendig gestalteten Stiel aus robustem Hartplastik.
Zur Person
Rebekka Bräm (*1990) studierte klassischen Gesang mit Schwerpunkt Oper in Zürich, Luzern und Wien. Sie sang im Rahmen des internationalen Opernstudios «Silvio Varviso» die Fiordiligi in Mozarts «Così fan tutte» und trat als Solistin in Bachs «Weihnachtsoratorium» im Kultur- und Kongresszentrum Luzern auf. 2009 gründete sie das A-cappella-Quartett Dezibelles, das bis 2023 aktiv war. Heute arbeitet sie hauptberuflich in der Kulturkommunikation und ist als freie Autorin tätig. Rebekka Bräm lebt in Winterthur.