Anfang Mai letzten Jahres überkam mich der Wunsch, an einer Kulturveranstaltung in Zürich teilzunehmen. Ich hatte das Gefühl, die literarischen Aktualitäten im deutschsprachigen Raum aus den Augen verloren zu haben, und ich wollte mich wieder auf den neuesten Stand bringen: ein musikalischer Abend mit Texten von Ingeborg Bachmann, eine DebütromaneLesekreuzfahrt auf dem Zürichsee, ein Schreibworkshop auf dem Uetliberg oder doch ein Besuch des Schweizer Finanzmuseums?
Meine Entscheidung war schnell getroffen. Im Finanzmuseum würde ich vielleicht endlich eine Antwort auf die quälende Frage finden: Was bedeutet Finanzwesen? Das Schweizer Finanzmuseum befindet sich im Untergeschoss des Finanzunternehmens Six im Kreis 5.
Empfangen wird man von zwei grossen Skulpturen, einem Bullen und einem Bären, laut Recherchen Symbole für eine steigende und fallende Kursentwicklung. Ich werde sehr freundlich von einer Frau begrüsst, die mir eine Eintrittskarte verkauft. Acht Franken für den Zutritt zur Finanzwelt sind durchaus akzeptabel.
Die Frau drückt mir ein Paar Kopfhörer in die Hand und erklärt mir, dass ich diese an jeder Station einstecken müsse. Es liegt mir fern, Ihnen die Überraschung zu verderben, aber da es sich bei diesem Text um eine Art Kulturtipp handelt, der Ihnen Lust auf die Finanzwelt machen soll, komme ich nicht umhin, Ihnen einen kleinen Einblick in diesen Besuch zu gewähren. «Acht Franken für den Zutritt zur Finanzwelt sind durchaus akzeptabel.»
Das Ganze beginnt in einem kleinen, dunklen Raum vor einer Finanzkrippe aus Karton, die in dem Moment, in dem ich eintrete, beleuchtet wird. Man sieht ein Modell des Gebäudes der Schweizerischen Nationalbank, den Kopf von Alfred Escher, unserem quasi Nationaldichter, und von Merkur, dem Gott des Handels und der Diebe, wenn ich mich nicht irre.
Merkur, dessen Stimme diese kleine Attraktion ganz ohne den Einsatz von Kopfhörern moderiert, stellt eine Figur nach der anderen vor und lässt sie abwechselnd allerlei Dinge über die Wirtschaft, die Schweiz und die Wirtschaft der Schweiz erzählen, so scheint es mir.
Ich sage «so scheint es mir», denn meine Aufmerksamkeit schweift, vereinnahmt von der musikalischen Begleitung «Money money money, must be funny, in the rich man’s world», schnell ab. Ich muss gestehen, dass ich Abba schon immer sehr gemocht habe.
Ich gehe weiter in den Hauptraum, in dem der Rest der Ausstellung einem didaktisch nummerierten Parcours folgt. Ich halte mich an die Reihenfolge. An der Wand zu meiner Linken hängt eine Reihe von grauen Plakaten, die an die Meilensteine des Fortschritts unserer Zivilisation erinnern:
die Dampfmaschine, die Spinnmaschine, die Eisenbahn, das Auto, das Radio, das Penizillin, die Atombombe, die Gentechnologie, der Computer und andere. In den Schaukästen in der Mitte des Raumes sind vergilbte Papierbögen, die Aktien verschiedener Unternehmen, ausgestellt. Gründungsurkunden von General Electric, Citroën und Roche. Der nächste Raum ist der Börse und dem Bankwesen gewidmet. Es werden Bildaufnahmen von abhebenden Flugzeugen projiziert.
Bilder von Menschen, die in den abhebenden Flugzeugen glühende Zigaretten rauchen. Bilder von Menschen, die im Meer baden, von Menschen, die im Bett frühstücken, von Menschenmengen vor der Börse, von extravaganten Schnurrbärten, von Männern am Telefon, von Männern, denen etwas unter die Haut zu gehen scheint, von Männern, die schreien, die weinen und weinend hin- und herschwanken.
Ich beginne zu realisieren, dass mir etwas entgeht. An jeder Station fällt mir eine kleine Zeichnung auf, die Kopfhörer darstellt und mit einer Nummer versehen ist. Ich stehe bereits vor der Nummer neun, aber entgegen der Aussage der Frau am Empfang gibt es nirgendwo eine Möglichkeit, die Kopfhörer einzustecken. Mir bleibt also auch weiterhin nichts anderes übrig, als mich auf die Bilder zu verlassen.
Ich stosse auf eine bunte Ecke, die mich sofort anzieht und offenbar dem Sport gewidmet ist. Ein hübscher Vorhang aus Tennisbällen markiert den Eingang. Ich verstehe, dass es sich beim Finanzwesen um einen Tennisball handelt. Aber nicht nur das! Nein, das Finanzwesen ist auch der Motor eines Rennwagens, seine Bremsen und sein Lenkrad. Das Finanzwesen ist ein Pferd und heisst Paloubet, Tortillas und Pegasus.
Das Finanzwesen sind Menschen, die schwitzen, das Finanzwesen sind die 150'000 Wettanbieterinnen und -anbieter in der Westschweiz, die regelmässig auf Pferde wetten, das Finanzwesen sind die Rekorde der Skifahrer, sind die blauen Flecken auf den Körpern der Fussballspielerinnen, das Finanzwesen sind aber auch einfache Fragen, wie zum Beispiel: Wird es heute schönes Wetter geben?
Oder: Warum ist ein Ball eigentlich rund? Ich lasse das Rätsel um die Formen von Bällen auf sich beruhen und konzentriere mich darauf, eine überzeugendere Antwort auf die wichtige Frage «Was ist das Finanzwesen?» zu finden, wobei ich enttäuscht und erleichtert feststelle, dass ich bereits am Ende des Rundgangs angelangt bin.
Mir bleibt nur noch, einen Geldautomaten und einen Bankkartenautomaten zu bewundern, über denen ein Foto der Alten Börse hängt. Diesen Ort kenne ich gut, weil ich unzählige Male junge Menschen gesehen habe, die sich dort unter dem Zeichen der Börse küssten, begrapschten, die rauchten, kotzten, erbrachen und rauchten, kotzten und sich begrapschten.
In diesem Gebäude befindet sich nämlich ein Nachtclub, den ich in meiner Jugend gelegentlich besucht habe. Ich verlasse das Museum, als hätte ich gerade an einer religiösen Zeremonie teilgenommen, die Sonne blendet mich, ich denke an Merkur und seine geflügelten Sandalen, und in diesem Augenblick kommt ein Kind auf seinem Roller mit hoher Geschwindigkeit angefahren.
Seine Mutter in der Ferne tut so, als würde sie ihm nachlaufen, er bleibt stehen, schaut auf, versucht, das Schild zu lesen, «B…O…E…R…S…E», er fragt seine Mutter: Mami, was isch das? Und seine Mutter antwortet dem Kind: «Ein Gebäude.» Eigentlich sollte ich nun in der Lage sein, eine genauere Antwort zu geben, da ich gerade zwei Stunden in diesem Gebäude verbracht habe. Allerdings bin ich am Anschliessen der Kopfhörer gescheitert. Rebecca Gisler Rebecca Gisler wurde 1991 in Zürich geboren.
Sie studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und absolvierte anschliessend den Master-Studiengang Création littéraire an der Universität Paris 8. Die zweisprachig aufgewachsene Autorin und Übersetzerin schreibt auf Deutsch und Französisch.
Ihr zweisprachig erschienener Debütroman «Vom Onkel» (2021) hat unter anderem den Schweizer Literaturpreis erhalten. Rebecca Gisler lebt in Zürich. «Mir bleibt nur noch, einen Geldautomaten und einen Bankkartenautomaten zu bewundern.» «‹B…O…E…R…S…E›, er fragt seine Mutter:
Mami, was isch das? Und seine Mutter antwortet dem Kind: ‹Ein Gebäude.›» «Ich verstehe, dass es sich beim Finanzwesen um einen Tennisball handelt. Aber nicht nur das!»
Rebecca Gisler
Rebecca Gisler wurde 1991 in Zürich geboren. Sie studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und absolvierte anschliessend den Master-Studiengang Création littéraire an der Universität Paris 8. Die zweisprachig aufgewachsene Autorin und Übersetzerin schreibt auf Deutsch und Französisch. Ihr zweisprachig erschienener Debütroman «Vom Onkel» (2021) hat unter anderem den Schweizer Literaturpreis erhalten. Rebecca Gisler lebt in Zürich