«Literatur darf eine Zumutung sein», ist Rebecca Gisler überzeugt. Ihre skurrile Geschichte rund um eine Familien-WG in der Bretagne ist zuweilen ganz schön ungemütlich: Der Onkel, der mit Nichte und Neffe zusammenwohnt, ist ein gefrässiger Geselle. Erzählt aus der Sicht seiner Nichte, die seine gewöhnungsbedürftigen Tischmanieren und sonstigen Messie Eigenarten minutiös beobachtet, nimmt er zuweilen tierische Züge an. «Eine absurde Sichtweise auf die Welt macht das Schreiben für mich interessant», sagt die Zürcher Autorin bei einem Spaziergang entlang des windgepeitschten Zürichsees. Franz Kafkas skurrile Welten haben sie beim Schreiben eben-so begleitet wie Jean-Henri Fabres 2000-seitige Insektenbeobachtungen. Auch Rebecca Gisler betrachtet ihre Figuren wie unter einem Brennglas.
«Mich fasziniert das Schräge der Realität»
Die 30-Jährige ist als Tochter einer Französin in Zürich aufgewachsen, die Ferien hat sie oft in der Bretagne verbracht. Klar war für sie daher: «Mein Französisch ist genau die Sprache, die es braucht, um diesen Onkel zu beschreiben, weil sie etwas Holpriges hat und weil lange Sätze und ein organischer Rhythmus möglich sind. Ich wollte meine Kindheitssprache wie ein Material benutzen, um diese Figur zu beschreiben.» Nach ihrem deutschsprachigen Studium am Literaturinstitut in Biel hat sie in Paris einen Masterabschluss in kreativem Schreiben gemacht, sich ganz in die französische Literatur vertieft. In Frankreich ist dann auch ihr Debüt «D’oncle» erschienen und wurde für mehrere Literaturpreise nominiert. Danach hat sie ihren Roman selbst ins Deutsche übersetzt – und eine etwas andere Fassung daraus gemacht. «Einzelne Figuren und Aspekte sind erst beim freien Übersetzen neu dazugekommen, und natürlich eine andere Musikalität, ein anderer Ton», sagt die Autorin, die auch mit Übersetzungen ihr Geld verdient. Die teilweise seitenlangen Sätze im Roman, in denen man sich als Leserin aber nie verheddert, sind in der deutschen Fassung etwas weniger ausufernd.
Im zügigen Schritttempo erzählt Gisler, die nun wieder mehrheitlich in Zürich lebt, den Wind übertönend von ihrem Alltag («rennen, lesen, schreiben») und von ihren Schreibstoffen: «Meine Texte funktionieren durch Alltagsbeobachtungen und die Frage, wie sich etwas durch das genaue Hinschauen verwandelt – mich fasziniert das Schräge der Realität.» So ist ihre Familiengeschichte, in der sich nach und nach Abgründe auftun, denn auch mit viel schwarzem Humor ausgestattet. Und mit subtilen Zwischentönen oder «einem schwarzen Loch, um das sich der Text aufbaut», wie sie sagt: «Das Ungreifbare ist für mich das Poetische.»
Buch
Rebecca Gisler
Vom Onkel
144 Seiten
(Atlantis 2022)
Rebecca Gislers Kulturtipps
Buch
Jean-Henri Fabre: Erinnerungen eines Insektenforschers I–X (Matthes und Seitz, 2010–2020)
«Ein Meisterwerk. Ein Insektenforscher, der das Leben und die Natur auf präzise und poetische Art beschreibt.»
Ausstellung
Croyances – Collection de l’Art Brut de Lausanne
«Künstlerinnen, die meist mit der Gesellschaft gebrochen haben, Aussenseiter oder Nonkonformisten, interpretieren religiöse Traditionen, bauen faszinierende Denksysteme auf und zeigen eine der stärksten Kunstformen, die es gibt.»
Vinyl
Sooma: It’s All About To Change (Radicalis 2020)
«Ein energiegeladenes Noise-Rock-Trio aus Zürich, das man unbedingt live sehen sollte!»