Ich müsste mich mehr bewegen. Meine Jacken und Pullover sind alle an der gleichen Stelle abgewetzt oder haben Löcher, nämlich am rechten Ellenbogen. Dies, weil ich immer genau gleich am gleichen Tisch sitze, das Handy in der linken Hand, den rechten Ellenbogen aufgestützt, die Zigarette im Mundwinkel und die Finger der rechten Hand auf dem so lieblich glatten Bildschirm.
So verbrenne ich wenig Kalorien. Alle paar Minuten schlage ich das rechte Bein über das linke, dann wie der das linke über das rechte. Trotzdem bin ich starr beim Aufstehen, meine Hüften schmerzen, mein Rücken knackt, meine Lungen pfeifen.
Laut Studien verbraucht das Hirn 400 bis 500 Kalorien pro Tag, 20 Prozent der Energie, die der ganze Körper braucht und also viel mehr als jedes andere Organ. Je mehr Denkkraft eingesetzt wird, desto mehr Kalorien werden verbrannt.
Was aber ist Denkkraft, frage ich mich, während ich auf den Bildschirm schaue, nachdem ich den Energieverbrauch des Hirns gegoogelt habe und diese Zeilen schreibe, während im Hinter grund auf dem Handy BBC World News läuft.
«Ich erinnere mich an die Zeit, als ich Begriffe noch alphabetisch nachgeschlagen habe.»
Ist Lesen, Schreiben und gleichzeitiges Radiohören Denkkraft? Oder ist es Denk vermeidung?
Zuvor hatte Google mir Abhilfe für hartnäckiges Bauchfett versprochen. Ist mein Bauch als fett zu bezeichnen, und ist dies hartnäckiges Fett? Ich suche auf Google nach Bauchfett. Ich erhalte eine Werbung für eine App, die Prokrastination vermeiden soll. Ich google dann nach einem besseren deutschen Wort für Prokrastination: Aufschieben. Schöner vielleicht: Zögern, Zaudern, Verschleppen.
Ich erinnere mich an die Zeit, als ich Begriffe noch alphabetisch nachgeschlagen habe und mich dann in einer Welt, wo Wörter sich rein nach ihrer Buchstabenfolge nebeneinandergesellen, verlor. Gleich oberhalb von Prokrastination hätte ich dann vielleicht Prokopius gefunden, den frühbyzantinischen Geschichtsschreiber aus Palästina, und hätte dann vielleicht Byzanz nachgeschlagen.
Zögern finde ich ein schöneres Wort als Prokrastinieren, sogar dem Wort Zaudern kann ich mehr abgewinnen. Zaudern heisst ja unschlüssig sein, unentschlossen. Eine Entscheidung abwarten, ein Urteil nicht so fort bilden.
Algorithmen merken sich unsere Entscheidungen, Urteile, und präsentieren uns anhand dieser immer mehr vom Gleichen. Und dann ab und zu das genaue Gegenteil, damit wir in Aufregung geraten und unsere gefestigten Meinungen kundtun, um digitale Herzen und Daumenhochs von Gleichgesinnten zu sammeln.
Eine Joggerin mit einem Telefon am Oberarm und grossen Kopfhörern läuft vorbei. Was hört sie wohl beim Joggen? Anregende Musik? Motivierende Podcasts oder Affirmationen? Vielleicht gar Walgesänge oder Vogelgezwitscher, das sich mit dem echten Vogelgezwitscher auf der Joggingroute mischt?
Das Handy zählt vermutlich auch ihre Schritte, die zurückgelegten Kilo- und Höhenmeter und wird ihr, zu Hause angekommen, mit einer Art Fanfare zu ihrer Leistung gratulieren.
Jedem das Seine. Jeder das Ihre. Das ist das Gespenstische an der digitalen Welt. Mir zum Beispiel werden Apps vorgeschlagen, mit denen ich sitzend Yoga machen könnte. Oder Lazy Yoga, auf dem Bett liegend, natürlich mit Handy in der Hand.
Des Weiteren werden mir Strategien empfohlen, die das Aufhören mit Rauchen total einfach machen, Tests, mein ADS in wenigen Schritten selbst zu diagnostizieren, und Tipps fürs kreative Arbeiten.
Alles leicht gemacht. Alles, fast ohne mich zu rühren. Alles glatt, widerstandslos, benutzer freundlich, wie der glatte Bildschirm.
Ich bin mir mein eigener Echoraum. Die Tendenzen, die ich beim Konsumieren zeige, verstärken sich gegenseitig und bestätigen mich in meinem Selbst und Weltbild. Ja, Algorithmen sind Radikalisierungsmaschinen. Viele Amokläufer in der westlichen Welt streamen ihren Amok live.
Die Empörung und die Gewalt, die uns an den Bildschirmen hält, schwappt ins richtige Leben über, macht die «anderen» zu Feinden unseres gemütlichen Referenzraums, und wir drehen durch, wenn sich nicht alles um uns dreht.
Radikalisierungsmaschinen: Interessierte ich mich wirklich für Yoga, würde ich bald mit wissenschaftsfeindlichen, impfskeptischen und wohl auch prorussischen Informationen gefüttert werden. Das Internet meint, mich zu kennen, und will mich bei der Stange halten, bewegen, animieren.
Ich fühle mich besser, intelligenter, wenn ich an alternative Fakten glaube, welche die «dumme Mehrheit» nicht kennt. Auch wenn es alternative Fakten nicht gibt; es sind Lügen oder ganz einfach Bullshit. So, wie alternative Medizin auch nicht Medizin im medizinischen Sinne ist.
Bis jetzt glaubte ich, die meisten Missinformationen und Radikalisierungseinladungen zu erkennen, da die Algorithmen mich nur anhanddessen kennen, was ich preisgebe. Nun aber will mir überall und zu jeder Zeit die künstliche Intelligenz helfen.
Doch damit sie mir richtig helfen kann, muss zuerst ich ihr helfen: Sie muss wissen, was ich schreibe, wie mein Stil ist, welche Fragen ich habe, wer ich bin auf Fotos und wer die anderen, wo ich wohne, welche Sprachen ich spreche, wie ich denke, welche Serien und Musik ich mag, wie ich mich fühle.
Unter dem Vorwand, ein intelligentes Gegenüber zu sein, sammeln diese «large language models» mehr öffentliche und persönliche Daten als je zuvor und machen so unsere digitale Weltwahrnehmung hyperspezifisch. 2006 sagte der englische Mathematiker Clive Humby: «Data is the new oil» – «Daten sind das neue Erdöl.»
Und nun, 18 Jahre später, sind die nach Marktwertreichsten Firmen Apple und Microsoft, die auch am meisten in künstliche Intelligenz investieren. Sie werden nicht intelligenter, sie analysieren und sammeln Daten und werden reicher.
Ich habe bis jetzt noch die Illusion, der KI den Zugang auf meine Daten nicht zu erlauben oder zu erschweren. Ich rede kaum mit ChatGPT, brauche keine modernen Fotobearbeitungstools, versuche, personalisierte Werbung auszuschalten, wenn es geht. Aber es geht nicht. Microsoft liest jetzt gerade mit und wird sich ohne meine Zustimmung diesen Text einverleiben.
Ich stehe auf. Strecke mich. Nehme einen Stift und ein Blatt Papier. Ich fange noch ein mal von vorne an. Ganz für mich. Auf Wiedersehen.
Zur Person
Raphael Urweider (* 1974) ist im bernischern Schattenhalb und in Biel aufgewachsen. In Fribourg hat er Germanistik und Philosophie studiert. Heute ist er als Lyriker, Theaterautor, Musiker, Regisseur, Übersetzer und Mundart-Rapper tätig. Für seine Gedichte wurde er vielfach ausgezeichnet, zuletzt ist der Band «Wildern» (Hanser 2018) erschienen. Raphael Urweider lebt mit seiner Familie in Bern.