«Teheran schien mir der ideale Ort zu sein, um meine Laufbahn als Journalistin zu beginnen», schreibt die 1971 geborene Autorin Ramita Navai in ihrem Buch «Stadt der Lügen». Denn obwohl sie nur wenig von der Geschichte ihrer Familie wusste, «hatte ich das dringende Bedürfnis, meine Wurzeln wiederzuentdecken und dort zu leben». Die englische «Times» ermöglichte ihr diesen Wunsch. Von 2003 bis 2006 war Ramita Navai als Korrespondentin in Teheran tätig. In ihrer Heimatstadt, aus der ihre Eltern, ihr Bruder und sie 1979 vor der Islamischen Revolution nach London geflüchtet waren.
Von der Notwendigkeit, sich zu verstellen
Zwei Welten öffneten sich der jungen Journalistin rund 25 Jahre nach ihrem Wegzug in der Millionenmetropole: der wohlhabende Norden und der arme Süden der Stadt. «Die Leben der Menschen an ihren beiden Enden scheinen durch Jahrhunderte voneinander getrennt zu sein», schreibt Navai. Als Journalistin bewegte sie sich auf beiden Seiten und lernte zahlreiche Menschen kennen, die wenig von der Sonnenseite des Lebens gesehen hatten. Dazu gehörte zum Beispiel Leyla, von deren Schicksal Navai im Buch erzählt.
Leyla stammt aus einer Mittelschichtfamilie aus dem Norden Teherans; der Vater Banker, die Mutter Sekretärin. Die Scheidung der Eltern sowie Leylas Vorliebe für wilde Partys und rebellische Jungs führen den Teenager zu früh in eine Ehe. Das junge Glück ist von kurzer Dauer, ihr Mann betrügt und schlägt sie; das Paar ist bald geschieden. Als alleinstehende Frau diskreditiert, ohne finanzielle Unterstützung, mit schlecht bezahltem Job und bald auch ohne Wohnung sucht Leyla Hilfe bei einer Freundin. Diese verdient sich ihren Lebensunterhalt mittels Prostitution, was Leyla allerdings erst im Lauf der Zeit realisiert. Leyla auf jeden Fall lässt sich ebenfalls aufs Geschäft ein und fühlt sich dabei weder gut noch schlecht. «Denn in Teheran ist es unmöglich, nicht mit Sex in Berührung zu kommen. Jeder weiss, dass die Strassen voller käuflicher Mädchen sind. Prostituierte gehören zum Stadtbild.»
Razzien sind zwar keine Seltenheit, aber gegen Sex drücken Polizeibeamte oftmals beide Augen zu. Genauso wie die Richter oder Mullahs. Letztere stellen gegen Liebe oder Geld sogenannte Sigheh-Bescheinigungen aus – eine Ehe auf Zeit, die von Gott und dem Staat genehmigt ist. Die Verbindung wird zwischen einem Mann (der bereits verheiratet sein darf) und einer Frau (die das nicht sein darf) eingegangen und kann ein paar Minuten oder 99 Jahre dauern. Eine praktische Einrichtung, um Moral, Sitte und Gesetz zu genügen.
«Wenn man in Teheran leben will, muss man lügen», macht Ramita Navai in Leylas wie den sieben anderen Geschichten deutlich. «Die Notwendigkeit, sich zu verstellen, ist überraschend egalitär verteilt – sie existiert über alle Klassenschranken hinweg», schreibt sie in ihrem Vorwort.
Das islamische Regime greift durch
Die Idee für ihr Buch kam der Journalistin im Jahr 2004. Ohne Begründung wurde ihr Presseausweis als ungültig erklärt. «Eine Erziehungsmassnahme», erklärte ihr ein Staatsdiener. Offenbar war der Regierung eine Reportage von Navai sauer aufgestossen, in der sie über Verstösse gegen die Menschenrechte berichtet hatte. «Man sieht es hier nicht gerne, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit auf Missstände gelenkt wird», bemerkte der Beamte lakonisch.
Navai liess sich nicht beirren. Ihre Begegnungen mit den Menschen der Stadt, deren Schicksale und Nöte hielt sie schriftlich fest. Danach verdichtete sie das Erzählte mit Fakten und Berichten aus Zeitungen, befragte weitere Zeitzeugen und anonymisierte ihre Informanten. So auch in der Geschichte von Amir.
Amir hatte seine Eltern als Sechsjähriger verloren. Sie galten als Staatsfeinde und wurden 1988 im Evin-Gefängnis in Teheran zum Tode verurteilt. Ein Schicksal, das in dieser Zeit über 3000 Menschen ereilte. Bis heute ist die genaue Zahl der Todesopfer nicht bekannt. Bekannt aber ist mittlerweile, dass Ajatollah Chomeini damals den geheimen Befehl ausgegeben hatte, alle Gefangenen zu exekutieren, «die an ihrem Widerstand gegen das islamische Regime festhielten».
Unverblümter Blick auf die Gesellschaft
Amirs Eltern gehörten offenbar dazu, obwohl sie in keiner Partei aktiv waren. Sie stammten aus Schiras, einer Stadt im Süden des Landes, und bezeichneten sich als Chapis – Linke. Als kritische Menschen trafen sie sich monatlich mit gleichgesinnten Intellektuellen, um staatskritische Diskussionen zu führen. Denn wie viele andere hatten sie sich nach dem Sturz des Schahs von der Islamischen Revolution mehr erhofft.
Beobachter und Denunzianten verrieten ihre Treffen. Was erst mit Drohbriefen begann, endete mit der Verhaftung und ihrem Tod. Der sechsjährige Amir, der mit seinen Eltern im Gefängnis gesessen hatte, wurde nach deren Hinrichtung ohne Erklärung als Vollwaise entlassen. 25 Jahre später tauchte plötzlich der Richter auf, der damals das Urteil gefällt hatte. Der alte Mann verfolgte Amir über Monate und bat ihn um Verzeihung. Amir war zutiefst erschüttert, aber vergeben konnte er dem reumütigen Alten nicht.
Traurige Geschichten greift Navai in ihrem Erzählband auf, die oft mit Tod und Verderben enden oder wo das Überleben nur durch Mogelei und Lügen garantiert ist. Ein Land, seine restriktive Regierung und die Menschen in dieser Unverblümtheit darzustellen, braucht die Distanz und eine tiefe Verbundenheit zur Heimat. Dank diesem offenen Blick von aussen nach innen ergibt sich für den Leser eine einzigartige Sicht auf Teheran, die iranische Gesellschaft und das Leben unter der Herrschaft eines restriktiven Regimes. Ein wichtiges Stück Zeitgeschichte.
Buch
Ramita Navai
«Stadt der Lügen»
352 Seiten
Aus dem Englischen von Yamin von Rauch
(Kein & Aber 2016).