Das ist die Geschichte von Harald. Harald hatte panische Angst vor dem Tod. Er wusste nicht genau, woher diese Angst gekommen war. Vielleicht aus seiner Kindheit, als sein Hamster Hansi vor seinen Augen die seinigen verdreht hatte und tot umgefallen war. Vielleicht aus seiner Jugend, von jenem Sommer im Landdienst, als der Störmetzger kam und ihn das verzweifelte Kreischen des schlachtreifen Schweines noch monatelang bis in die Träume verfolgte. Vielleicht von seiner ersten grossen Liebe, der dünnen, bleichen Julia, die nur dann ihn zu küssen bereit war, wenn gleichzeitig im Hintergrund auf VHS «Harold and Maude» lief. Oder war es schlicht, weil er an Fronleichnam zur Welt gekommen war? Sei, wie dem auch sei, jeälter Harald wurde, desto grösser wurde naturgemäss seine Angst vor dem Tod. Und irgendwann wurde sie so gross, dass Harald aufhörte, sein Haus zu verlassen. Aus lauter Angst, es könne ihm draussen etwas zustossen. Ein tektonischer Graben könnte sich vor seinen Füssen auftun und die Erde würde ihn verschlucken. Eine aus einem Terrarium entflohene Giftschlange könnte ihn in die Wade beissen. Ein Stück Weltraumschrott könnte ihm vom Himmel auf den Kopf fallen. Solche Dinge halt. Aber klar: Harald war auch schmerzlich bewusst, dass die meisten Leute zu Hause sterben. Im Bett. Allein, sein Zuhause glaubte Harald unter Kontrolle zu haben. Er hatte alle Ecken und Kanten seiner Möbel mit Schaumgummi abgedeckt. Täglich prüfte er mittels Klopfproben und leichtem Hüpfen die Statik von Wänden und Böden. Alles Lebensnotwendige bestellte er online und liess es sich vor die Haustür liefern. Am schlimmsten war es abends, wenn er zu Bett ging und Angst davor hatte, die Augen zu schliessen. Angst, dass sie am Morgen nicht mehr aufgingen. Aber siehe da, das gingen sie, jeden Tag von neuem, wie von alleine. Das Leben halt. Das nie aufhörende Leben. Und so wuchsen Haralds Haare – er hatte Angst, sich beim Schneiden zu schneiden –, wuchsen Haralds Fingernägel – dito – und wuchs die Wiese vor Haralds Haus. Und war irgendwann so hochgewachsen, dass sich die Lieferdienste weigerten, Haralds bestellte Waren bis vor die Haustür zu tragen. Was Harald wiederum dazu zwang, durch die Wiese bis zum Gartentor zu gehen. Was ihn beinah in den Wahnsinn trieb, denn klar: Die Angst vor dem Wadenbiss der entflohenen Giftschlange. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Wiese zu mähen. Für seinen Handrasenmäher war sie schon viel zu hoch. In seiner Garage fand er eine uralte rostige Sichel. Doch damit riskierte er, sich in den anderen Arm zu schneiden und dann in seinem Vorgarten elendiglich zu verbluten wie weiland das Schwein auf dem Bauernhof. Es blieb nur die Sense. Ein Erbstück seines Grossvaters. Auch sie uralt und rostig, voller Spinnweben, in der Garagenecke. Mit zwei Paar Handschuhen übereinander und der dicksten Lederjacke, die er hatte, wagte er es, sie anzufassen, den Rost abzuschmirgeln und das Sensenblatt zu schleifen. Aber wie zum Teufel senst man? Verzweifelt arbeitete sich Harald am ersten Meter Wiese vor der Haustür ab, aber die Halme blieben stehen, als wollten sie ihm und seiner ganzen Angst die lange Nase zeigen. Na wartet, dachte er. Euch werde ich schon noch fällen. Wäre ja gelacht. Und die menschliche Psyche ist interessant. Denn um die Wiese mähen zu können, um nachher das Haus nicht mehr verlassen zu müssen, verliess Harald das Haus. Just an seinem 50. Geburtstag. Just an Fronleichnam. Für einen Sensenkurs der städtischen Grünpflegeabteilung. Durchgeführt naturgemäss auf einer der grössten Grünflächen, die die Stadt zu pflegen hat: dem Friedhof. Und da stand Harald dann also, mit zwölf anderen Männern und Frauen, alle mit ihren Sensen, und schaute dem Stadtgärtner zu, wie er ihnen zeigte, wie man senst. Und in dem Augenblick, als sie alle ihre Sensen ansetzten und zu den ersten Schwüngen ausholen sollten, da kam um die Hecke herum, gemessenen Schrittes, eine Trauergesellschaft. Schwarz angezogen, die Köpfe gesenkt, einzelne mit Blumen in der Hand, vorneweg ein Priester in einer weissen Soutane. Die dreizehn Sensenmänner und Sensenfrauen blieben wie eingefroren stehen. Die Trauergesellschaft ebenso. Vollkommen entgeistert schauten sie einander an. Nach einer gefühlten Ewigkeit senkte die Trauergesellschaft wieder die Köpfe und ging gemessenen Schrittes weiter. Die Sensenleute begannen, ihre Sensen zu schwingen. Mit Ausnahme von Harald. Er schaute zuerst der Gesellschaft nach, dann schaute er an sich hinunter, wie er da stand, in der Lederjacke, den dicken Handschuhen, den Eishockey-Goalie-Beinschonern, schweissüberströmt. Dann machte sich auf seinem Gesicht auf einmal ein Schmunzeln breit, ging über in ein breites Grinsen, ging über in ein schallendes Gelächter, ging über in einen veritablen Lachanfall, und der Lachanfall liess ihn die Sense fallen, liess ihn rücklings ins hohe Gras fallen und wollte einfach nicht mehr aufhören. Als er sich endlich wieder aufsetzte, war die Wiese rund um ihn herum gemäht, und die ganze Gruppe war verschwunden. Nur er sass noch da, in einem Kreis aus hohem Gras. Ganz still war es. Ein Schmetterling tanzte an seinem Gesicht vorbei. Von weitem sang eine Amsel. Und immer wieder schüttelte es Harald vor Lachen, als würden sich aus einer Mauer, einst gross und mächtig, immer wieder Steine lösen und hinunterfallen, bis nichts mehr von der Mauer übrig ist. Von diesem Tag an hatte Harald die Angst vor dem Tod verloren und lebte noch lange glücklich und zufrieden.
Ralf Schlatter
Geboren 1971 in Schaffhausen, lebt Ralf Schlatter als Autor und Kabarettist in Zürich. Er schreibt Romane (zuletzt «Muttertag»), Kurzgeschichten und Hörspiele. Für Radio SRF erzählte er zehn Jahre lang «Morgengeschichten». Sein neues Buch «43 586 – Ein Schweizer Decamerone» versammelt die schönsten davon, verwoben in eine Rahmenhandlung. Mit Anna-Katharina Rickert tritt er seit über 20 Jahren als schön&gut mit poetischem und politischem Kabarett auf, zurzeit sind sie unterwegs mit «Aller Tage Abend».
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