Strassenlärm an der Grenze zu Bratislava: Schriftstellerin und Journalistin Irena Brezná und SRF-Reporter Michael Luisier gehen am verlassenen Zollhaus vorbei. «Hier musste man immer den Pass zeigen», erinnert sich die Autorin. «Jetzt ist es ein vereintes Europa – das erfüllt mich jedes Mal mit Euphorie. Es ist ein schönes Gefühl, dass der Eiserne Vorhang gefallen ist.» Für die SRF-Sendung wagt sich die slowakisch-schweizerische Autorin auf eine Reise in die Vergangenheit.
Schweizer Literaturpreis als Anerkennung
Aufgewachsen ist Irena Brezná in Trencin, ihr Abitur hat sie in Bratislava gemacht. 1968 ist sie nach der Niederschlagung des Prager Frühlings als 18-Jährige mit ihren Eltern nach Basel emigriert. «Das grösste Unglück war, dass ich keine Sprache zum Schreiben hatte», sagt sie im «Hörpunkt». Richtig angekommen fühlte sie sich erst, als sie 2012 den Schweizer Literaturpreis für ihren Roman «Die undankbare Fremde» erhielt. Darin beschreibt sie das Aufbegehren einer jungen Frau im Gastland Schweiz. Noch heute rührt Brezná diese Anerkennung zu Tränen: «Meine aufrichtige Beschreibung wurde ausgezeichnet. Ich darf kritisch sein, obwohl ich als Flüchtling aufgenommen wurde.»
Mit Michael Luisier geht sie zum Haus ihrer Kindheit in Trencin oder zeigt ihm das Kino, in dem sie mit dem Grossvater die Nachrichten schaute. Ihre Kindheit bezeichnet sie als glücklich: «Dass meine Familie eine Tragödie erlebt hat, habe ich erst viel später wahrgenommen.» Ihr Vater wurde als Anwalt von der kommunistischen Regierung enteignet, musste sich als Hilfsarbeiter durchschlagen. Ihre Mutter landete im Gefängnis, nachdem sie bei den Vorbereitungen zur Flucht als Schmugglerin verurteilt wurde. Die Erwachsenen liessen die 9-jährige Irena Brezná im Ungewissen. «Ich verstand nicht, warum meine Mutter plötzlich nicht mehr nach Hause kam.» Mit dem kulturtipp hat die Autorin über ihre Erinnerungen und Erfahrungen im Exil gesprochen.
kulturtipp: Was bedeutet für Sie der Begriff Heimat?
Irena Brezná: «Die Heimat ist wie die Gesundheit, erst dann, wenn man sie verloren hat, lernt man sie schätzen», so definierte es im 19. Jahrhundert der polnische Dichter Adam Mickiewicz. Für mich ist Heimat ein wandelbarer Begriff. Sowohl dem Land, das ich verlassen musste, wie auch dem Gastland gegenüber habe ich ein Pflichtgefühl. Wenn ich in Mittelosteuropa bin, wo Angst vor Einwanderung herrscht, erzähle ich von der multikulturellen Schweiz, die auch dank den vielen Einwanderern prosperiert. Und wenn ich in Basel bin, schreibe ich Bücher, Essays, Reportagen über die Lage in jenem geografischen Raum. So versuche ich schreibend, die beiden Welten zusammenzubringen, so wie ich sie in mir selbst zusammengefügt habe.
Sie schreiben schon seit Jahrzehnten auf Deutsch. Welches Verhältnis haben Sie heute zu Ihrer Muttersprache?
Ein gutes Verhältnis. Die Muttersprache pflege ich weiter. Als ich vor ein paar Jahren das Angebot von der grössten slowakischen Zeitung «Sme» bekam, Kolumnen zu schreiben, war das eine Herausforderung, ob ich überhaupt in der Muttersprache schreiben kann. Ich habe es mir zwar bewiesen, aber nach drei Jahren habe ich damit aufgehört. Ich musste feststellen, dass meine slowakischen Texte sprachlich nicht interessant sind. In der Muttersprache bin ich konventionell, auf Deutsch hingegen erfinderisch. Die fremde Sprache klebt nicht an der Zunge, liegt nicht dicht unter der Haut – es ist eine von kulturellen Dogmen befreite, offene Sprache.
Manche Schriftsteller haben Mühe mit dem Begriff «Migrationsliteratur», weil sie in ihrem Schreiben nicht nur auf ihre Biografie reduziert werden wollen, und den Begriff als Einschränkung erleben. Wie stehen Sie dazu?
Der Begriff hat für mich eine Logik. Ich bin doch in die deutsche Sprache eingewandert, habe sie mir erarbeitet und schleife weiter daran. Als ich in den 80er-Jahren anfing, auf Deutsch zu schreiben, habe ich es noch als Wagnis, als Besetzen eines fremden Territoriums empfunden. Das Dogma der Muttersprache war damals sehr stark. Vor mehr als zehn Jahren nahm ich in Innsbruck an einem Treffen der sogenannten Migrantenautoren und -autorinnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz teil. Diese Gruppenzugehörigkeit hat mir Kraft gegeben. Wir traten nicht in einem Alternativcafé auf, sondern im Stadttheater. Mit unserem «Tabubruch» sind wir in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Inwiefern hat Ihre Biografie Ihr Schreiben beeinflusst?
Einige Texte sind biografisch geprägt, aber es geht nicht um meine Befindlichkeit, sondern darum, dass ich von der gesellschaftlichen und politischen Atmosphäre als Zeitzeugin berichte. Und das Material zum Schreiben kommt bei Weitem nicht nur aus meiner Biografie. Als Reporterin habe ich viele Länder bereist, mir neue und aufwühlende Themen ausgesucht. So beschreibe ich nicht nur die rollenden Panzer des Warschauer Paktes 1968 in der Tschechoslowakei, sondern auch jene russischen Panzer und Bomben in Tschetschenien, die dort eine Verwüstung hinterlassen haben. In den Kriegsreportagen bin ich lediglich ein Fernrohr oder eine Lupe: Durch genaues Hinschauen auf ein konkretes historisches Ereignis will ich informieren, aber ich mache auch Literatur daraus, das Universelle.
Sehen Sie in Ihrer eigenen Geschichte Parallelen zu der heutigen Flüchtlings-Situation?
Ich habe Empathie für heutige Flüchtlinge und sehe mich auch selbst darin. Ich dolmetsche für Flüchtlinge aus dem Russischen, meist kommen sie aus Tschetschenien. Viele meiner Landsleute, die in der Schweiz als gut integriert gelten, mögen es nicht, dass nach ihnen noch andere kommen. Diese Abwehr ist psychologisch nachvollziehbar, man will die eigene Flüchtlingsgeschichte hinter sich lassen und sich selbst zur Mehrheitsgesellschaft zählen. Für mich ist es nicht so. Wenn ich in Mittelosteuropa bin, erzähle ich, wie es mich beglückt, dass ich in der Schweiz viele Sprachen auf der Strasse höre.
Werden Sie in der Schweiz nicht auch mit Klischees konfrontiert, oder spüren Sie immer diese Offenheit gegenüber anderen Kulturen?
Klar, Vorurteile erlebe ich hie und da – eine Haltung, als müsste man den Einwanderern pädagogische Entwicklungshilfe zukommen lassen. Als ich jung war, hiess es, ich solle strukturierter, genauer sein. Ich habe dagegen gewütet, aber dann gelernt, mir solche nützlichen Fähigkeiten anzueignen wie die Genauigkeit, die Faktentreue. Das hat meine Persönlichkeit bereichert.
Zurück zu den Wurzeln
Nebst Irena Brezná begleitet das SRF-Team für den «Hörpunkt» zum Thema «Fremdheimisch» zwei weitere Schreibende in ihre alte Heimat: Redaktor Markus Gasser hat sich mit Autorin Kathy Zarnegin («Chaya», 2017) auf die Reise an die Orte ihrer Kindheit im Iran gemacht und mit ihr etwa die überwältigenden Sinneseindrücke auf dem Basar in Teheran erlebt. Mit dem schweizerisch-rumänischen Schriftsteller Catalin Dorian Florescu ist Redaktor Felix Schneider nach Bukarest und ans Donau-Delta gereist. Hier lässt sich der Autor, der 2011 für seinen Roman «Jacob beschliesst zu lieben» den Schweizer Buchpreis erhalten hat, für seine Geschichten inspirieren.
Im «Hörpunkt» erzählen alle drei Schreibenden von ihren Erinnerungen, Prägungen und Inspirationen. «Uns ist aufgefallen, dass viele bedeutsame Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit Migrationshintergrund in der Schweiz leben und arbeiten», sagt die «Hörpunkt»-Verantwortliche Susanne Sturzenegger. «Ihr Verhältnis zur Schweiz hat uns interessiert und wie sich ihre Heimat in ihrem Werk spiegelt.» Vor Ort will das SRF-Team diesen Fragen direkt nachspüren. «Hier haben wir drei Menschen mit ihren ganz persönlichen ‹Flüchtlings›-Geschichten», sagt Sturzenegger und zieht die Parallelen zu heute: «Wenn man sie erzählen hört, ähneln sie den Schicksalen von heutigen Flüchtlingen.» Nebst den berührenden Reportagen werden im «Hörpunkt» auch die persönlichen Eindrücke der SRF-Reporter zu hören sein.
«Hörpunkt»
Fremdheimisch – Mit Schweizer Autorinnen und Autoren in ihrem Herkunftsland
So, 2.9., 09.00–15.00 Radio SRF 2 Kultur (Z: 17.00–24.00)
Buch
Irena Brezná
Wie ich auf die Welt kam. In der Sprache zu Hause
192 Seiten
Mit Fotografien
(Rotpunkt 2018)