Mark Ginzler drückt auf den grauen Knopf der Gegensprechanlage und ist mit einer anderen Welt verbunden. Welchen Ort auch immer sich der Hörspielregisseur wünscht, der Aufnahmeraum jenseits der dicken Scheibe verwandelt sich in diesen. Heute ist es das fiktive Schweizer Münsterburg, wo nun zwei Schauspieler und eine Schauspielerin ihre Köpfe heben. «Im Einstieg musst du ein bisschen sauberer sein», sagt Ginzler zum einen. Und zu einem anderen: «Der allererste Satz, Take 22, kann noch mehr in einer Kindersprache sein – mach den ein bisschen ‹Sendung-mit-der-Maus›. Gut, es läuft.»
Ein Freitag im April 2019: Im Hörspielstudio von Radio SRF 2 Kultur in Basel laufen die Aufnahmen zum Hörspiel «Martin Salander» nach Gottfried Keller, das Ende Dezember gesendet wird. An diesem Morgen wird die Einstiegsszene eingesprochen. Salander (Nicola Mastroberardino) kehrt nach langem Auslandsaufenthalt in seine Heimatstadt zurück und kommt vor dem Hof der Weidlichs mit dem Bauernpaar ins Gespräch. Mark Ginzler und die Schauspieler haben die Szene zunächst im Studio-Vorraum besprochen – die Sprache, der Ton der Figur, die richtige Betonung von «Mamá». Jetzt stehen die drei Sprecher vor gelben Mikrofonständern, machen zu einer Textstelle besorgte Gesichter, gestikulieren zu einer anderen mit den Händen. Auf dem Bildschirm des Regiepults werden ihre Stimmen zu roten Zackenlinien, die Tontechniker Tom Willen beobachtet. Der Regieraum erinnert an die Kommandobrücke eines Schiffs. Wie der Kapitän überblickt Mark Ginzler von seinem Pult aus beide Aufnahmeräume des Hörspielstudios. Und gibt Anweisungen: «weniger verschleifen» und «behalte diese Schärfe bis zum Schluss». Nach dem dritten Durchgang ist der Regisseur zufrieden. «Danke, das war sehr gut.» Er streicht die Szene in seinem grüngebundenen Skript mit den vielen gelben Post-it-Zetteln ab.
Das Studio als eine Art Haus im Haus
Das sechsteilige Salander-Hörspiel ist eine der letzten Produktionen im Studio. Mitte Jahr wird Radio SRF 2 Kultur vom Basler Bruderholz ins neue Meret-Oppenheim-Hochhaus beim Bahnhof umgezogen sein. Das legendäre Hörspielstudio ist dann Geschichte. Das sogenannte H3 wurde 1978 als Teil des neuen Erweiterungsbaus auf dem Bruderholz eröffnet. Das Studio galt damals als modernstes und grösstes seiner Art in Europa. Eine Art Haus im Haus, auf Federn schwimmend – kein Geräusch, keine Erschütterung soll von aussen hineingelangen.
Wer ins H3 will, geht an kleineren Studios vorbei und durch die Kantine, über eine Wendeltreppe zwei Stockwerke in die Tiefe, einen kühlen Gang mit alten Radiorequisiten entlang und schliesslich durch eine limettengrüne Tür. Vielleicht verleiht das dem Hörspielstudio seine Aura: Schon der Weg hierhin fühlt sich an wie ein Abenteuer. Vielleicht sind es aber auch die Farben, die an eine andere Zeit erinnern. Im H3b, einem der grossen Aufnahmeräume, sind die Wände mit senfgelben Leinenpanelen verkleidet. In diesem «tönenden» Studioteil wird aufgenommen, was in Innenräumen spielt. Ein Teil des Parkettbodens ist mit Teppichen ausgelegt, akustische Stellwände stehen bereit, auf einem Korpus wartet eine Schreibmaschine auf ihren Einsatz. Über den hinteren Teil des Raums zieht sich eine grosse Empore. Darunter: ein niedrigerer Studioteil mit Bett, Stühlen und Kulissenfenstern.
Das baldige Ende ist in allen Köpfen
Die Treppe zur Empore lässt sich in drei Klängen erklimmen: Ein Teil führt über Holz, zwei andere über Beton und Metall. Oben gelangt man über die sogenannte Waschküche, einem kleinen, stark hallenden Raum, auf die Empore des H3b. Im zweiten grossen Aufnahmeraum sind die Wandverkleidungen oliv- und flaschengrün. Von der Decke hängen Zylinder aus Schaumstoff. In diesem schallarmen Raum wird «trocken» aufgenommen. Weil die Stimmen hier kaum nachhallen, können sie spätere für Aussenszenen mit Geräuschen unterlegt werden. Wie die erste Szene von «Martin Salander» – in der fertigen Fassung holt ein dezentes Brunnenplätschern die Hörer auf den Hof der Weidlichs. Wie solche Geräuschkulissen vor der Digitalisierung erzeugt wurden, darauf deuten die Trittfelder auf der Empore hin. Ein paar Schritte durch das Kiesbett erzeugen ein Knirschgeräusch, und schon ist man in einem Park oder auf einem Waldweg. Hier ist das H3 ein einziger grosser Hörspielplatz.
Mark Ginzler bespricht jetzt mit weiteren Schauspielerinnen und Schauspielern die nächste Szene, in der Julian und Isidor Weidlich sowie Martin Salanders Töchter Netti und Setti vorkommen. Im Vorraum rufen gerahmte Plakate die Geschichte des Hörspielstudios in Erinnerung. «Kugler der Fall/Hörstück von Stefan Kaegi/Samstag, 20. März 1999», steht auf einem. Es wurde bereits abgehängt. Auf dem weissen Glasschirm einer Stehlampe klebt ein Post-it: «Reserviert». An diesem Morgen sprechen auch die Schauspieler immer wieder über das baldige Ende des legendären Studios. Wenn «Martin Salander» ausgestrahlt wird, stehen auf dem Bruderholz bereits die Abrissbagger bereit.
«Gut, macht doch noch eine Letzte»
Mittlerweile geht es gegen Mittag, die Schauspielerinnen und Schauspieler sitzen im gelben Studio an kleinen Tischen. Zum zweiten Mal sprechen sie eine Szene im Haus der Salanders ein. Einer der Schauspieler gestikuliert, lässt eine Hand auf sein Bein fallen. Mark Ginzler lehnt sich auf seinem Bürostuhl nach hinten zu Tontechniker Tom Willen: «War das unter Text zu hören?» Tom Willen nickt. Das Klatschgeräusch auf der Jeans hat auf dem Bildschirm einen Ausschlag hinterlassen. Mark Ginzler drückt auf den grauen Knopf der Gegensprechanlage: «Guck, dass das mit den Klamotten nicht passiert.» Kurz überlegt er. «Gut, macht doch noch eine Letzte. Es läuft.» Simon Knopf
Martin Salander – Das Hörspiel
Der ausgebildete Volkslehrer und erfolgreiche Kaufmann Martin Salander wird von seinem zwielichtigen Jugendfreund Louis Wohlwend um sein Vermögen gebracht. Gottfried Kellers letzter und unvollendeter Roman ist ein Sittengemälde der Schweiz des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Und die Geschichte einer Familie, die sich immer wieder von Schicksalsschlägen erholt. Der Roman lässt sich nun als Hörspiel unter der Regie von Mark Ginzler neu entdecken.
Mit Roland Koch, Désirée Meiser, Nicola Mastroberardino, Linda Olsansky und vielen mehr.
Hörspiel
Martin Salander
1–2/6: Mi, 25.12., ab 20.03 Radio SRF 1
3–4/6: Do, 26.12., ab 20.03 Radio SRF 1
5–6/6: Fr, 27.12., ab 20.03 Radio SRF 1
Martin Salander: Hörspieltag
1–6/6: Do, 2.1., ab 09.00/17.00
Radio SRF 2 Kultur