kulturtipp: Rachel Harnisch, Sie sangen im Oktober eine anspruchsvolle Opern-Uraufführung von Aribert Reimann in Berlin. Viel Aufwand – und der Ertrag?
Rachel Harnisch: Es war unheimlich anstrengend, aber ich habe alles zurückbekommen, was ich investiert habe: Wäre es anders herausgekommen, wärs schlimm gewesen. Nachdem ich die ersten zwei Teile gelernt hatte, dachte ich, das geht locker. Es war nicht so schwer und nicht so viel. Aber den letzten Teil der Oper erhielt ich erst Ende Juni – und darin hatte ich 45 Minuten Gesang! Da fragte ich mich schon, wie ich das bis zum Probenbeginn Ende August lernen sollte.
Sie schafften es offenbar, und danach gab es viel zu feiern. Dazu haben Sie an Silvester und Neujahr keine Zeit. Sie singen gleich zwei Konzerte.
Ja, aber das macht mir nichts aus. Das Konzert an Neujahr ist ja schon um 17 Uhr – danach kann ich alles nachholen. Silvester war für mich nie ein wichtiger Tag, ganz im Gegensatz zu Weihnachten.
Wie stark schränkt Sie der Beruf ein?
Klar, man muss alles gut planen. Aber ein Fest lässt sich verschieben. Vor Vorstellungen mache ich keine Partys – aber danach schon. Ich brauche kurze Phasen, in denen ich loslassen kann. Da muss ich wieder mal ein Glas Wein trinken. Hat man eine gute Technik, hält die Stimme viel aus. Auch die mentale Seite ist wichtig. Wenn man im Leben durch andere Faktoren geschwächt wird, ist eine Sängerin eher anfällig – auch auf Erkältungen.
Waren Sie früher vorsichtiger als heute?
Früher machte ich mir viel mehr Sorgen – wegen tausend Sachen! Heute habe ich ein Urvertrauen in das Leben und in die Stimme. Ich bin viel gelassener und lockerer, weiss, dass der Abend auf der Bühne nicht alles ist. Mein Leben ist meine Familie. Meinen Kindern ist es egal, ob ich mal einen hohen Ton versiebe. Mein Bestes ist nicht immer 180 Prozent, sondern auch mal bloss 120. Und wären es nur 80 Prozent, ist das auch nicht schlecht. Ich kann den Anspruch – positiv gesehen – hinunterkurbeln. Die Bühne ist ein Arbeitsplatz und kein Heiligtum. Ich darf wunderschöne Musik reproduzieren, aber das ist nicht heiliger als die Leistung eines Arztes, der in einer Operation ein Leben rettet. Im Gegenteil.
Wie zeigt sich die Gelassenheit beim Gang auf die Bühne?
Ich bin kontrollierter, alles geschieht viel bewusster. Früher ging ich raus und konnte nicht mehr zurück: Ich liess es passieren. Jetzt bin ich Herrin über das, was ich dort mache. Ich könnte Ihnen die fünf Berliner Reimann-Opern-Vorstellungen exakt nacherzählen, wüsste alles über die gesungenen Töne.
Ist das eine Stärke?
Klar! Früher lieferte ich mich der Kunst aus. Ich will das nicht mehr. Alles, was mir Grenzen setzt, hält mich heute zusammen. Ich kann dennoch mehr transportieren als früher.
Was ist heute das Schönste an einem Opernabend?
Jedes Mal sterbe ich fast vor Angst, bevor es losgeht – das ist der Horror. Vor 20 Jahren hätte ich wohl gesagt: Wenn man sich vergisst, wird es schön. Aber das gibt es nicht mehr. Ich will und muss mich sofort greifen können. Aber was heisst «schön»? Ein Essen mit Freunden ist schön. Eine Schifffahrt.
Oder Erfolg?
Jeder Sänger will das, klar. Aber Erfolg ist nicht in dem Sinn schön, dass ich mich dann entspannen kann. Singen ist eine Arbeit. Aber den letzten Ton zu singen und zu wissen, es ging gut: Das ist schön.
Weil dann der Jubel folgt?
Ich mag es nicht, mich dem Publikum zu stellen, obwohl ich nie etwas befürchten musste. Der Gang vor den Vorhang hat bisweilen etwas sehr Theatralisches an sich. Wer immer viel Applaus erwartet, hat schon verloren. Der Künstler aber denkt immer: Warum nicht mehr?
Von 2012 bis 2015 arbeiteten Sie mit einem Residenz-Vertrag am Opernhaus Zürich – Sie sangen grosse Rollen, nach drei Jahren waren Sie wieder weg. Warum?
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte man diesen Vertrag auf Lebzeiten weiterführen können: Ich lebe in Zürich, habe meine Familie hier – nichts Einfacheres, als hier zu singen und zu wirken. Aber es sollte nicht sein. Ich kann es Ihnen nicht erklären. Es lag sicher nicht an meiner künstlerischen Qualität. Alle Rollen waren für das Haus und für mich ein Erfolg. Sänger sind gewissen Marktvorgaben ausgeliefert.
Jetzt sind Sie auf dem freien Markt. Was heisst das?
Mein Agent muss mich in der Opernwelt anbieten. Nach dem Erfolg in Berlin bewegt sich einiges, man weiss nun wieder, dass es mich gibt und wie breit gefächert mein Repertoire ist. Man sah mich in diesem Werk in einem ganz anderen Zusammenhang. Jetzt traut man mir Partien zu, die sich durch den Fachwechsel anbieten. Vieles öffnet sich. Unter anderen wird es bald ein Janacek-Projekt geben.
Rachel Harnisch
Sie wurde 1973 im Wallis geboren, kam sehr früh als Ensemblemitglied an die Wiener Staatsoper und wurde nach einem Jahr wieder freischaffende Sängerin. Rachel Harnisch arbeitete oft mit Claudio Abbado zusammen und sang an den grössten Häusern der Welt. Auf CD erschien vor kurzem Hindemiths «Marienleben».
Konzerte
So, 31.12, 17.00 KKL Luzern
Mo, 1.1., 17.00 Maag Zürich
Zürcher Kammerorchester mit Rachel Harnisch, Daniel Hope, u.a.
CDs mit Rachel Harnisch
Othmar Schoeck
Sommernacht
Berner Symphonie-orchester
Ltg.: Mario Venzago (Musiques suisses 2015).
G.B. Pergolesi
Stabat Mater
Orchestra Mozart
Ltg.: Claudio Abbado (Archiv Produktion Universal 2015).
Paul Hindemith
Marienleben
Jan Philip Schulze (Piano)
(Naxos 2017).