«Barque près de Montreux» steht auf dem Schwarz-Weiss-Foto. Dabei erinnert es eher an den Mittelmeerraum: ein Segelschiff mit markanten Dreieckssegeln vor einem mondän wirkenden Küstenort.
Doch als Bruno Wehrli das Bild 1905 schoss, gab es auf dem Lac Léman eben noch zahlreiche solcher Barken mit den mediterranen Lateinersegeln. Die Fotografie lagert normalerweise in einem der schweren Rollregale im Tieflager der Schweizerischen Nationalbibliothek. Kathrin Gurtner hat den Kontaktabzug beim kulturtipp-Besuch aus der säurefreien Kartonschachtel geholt und auf einen Tisch gelegt. Dort entfaltet er jetzt seine Sogwirkung: Eine Zeitreise auf 18 mal 24 Zentimetern.
Kathrin Gurtner deutet auf den schwarzen Balken am unteren Bildrand, auf dem eine Nummer und der Bildtitel stehen. «Ein Markenzeichen der Gebrüder Wehrli.» Sie und ihre Kolleginnen von der Grafischen Sammlung haben sich intensiv mit der historischen Fotosammlung des grössten Schweizer Ansichtskartenverlags Photoglob-Wehrli AG beschäftigt: 13'000 Fotos aus den Jahren 1897 bis 1934 haben sie in den letzten Jahren detailliert beschrieben und digitalisiert. Diese sind nun in der Archivdatenbank der Nationalbibliothek über «www.helveticarchives.ch» frei verfügbar. Oder hochaufgelöst über «Wikimedia Commons».
Dokumentarisch und ästhetisch zugleich
Ein weiterer Kontaktabzug liegt jetzt auf dem Tisch, darauf zwei Frauen. Doch Gurtner hat kein Auge für deren Freiburger Trachten, sie zeigt auf ein paar amorphe beigefarbene Flecken. «Hier ist deutlich zu sehen, wie der Leim durchgedrückt hat.» Das kleine Detail verrät nur im Ansatz, welcher Aufwand hinter der Archiv-Erschliessung steckt. Gurtner erzählt von aufgeklebten Fotos, von den empfindlichen Glasnegativen, die in schützende Klappumschläge umgelagert wurden. Eine lohnenswerte Arbeit.
«Diese Fotografien sind fotohistorisch sehr interessant», sagt sie. Zum einen hätten die Gebrüder Wehrli mit ihrer schweren Fotoausrüstung die ganze Schweiz bereist. «Sie gehörten zu den ersten, welche die Schweizer Berglandschaften in die Wohnzimmer brachten.» Die drei hätten schon früh das Geschäftspotenzial der Ansichtskarte erkannt. Schliesslich zeichne sich ihre Arbeit aber vor allem durch die hohe Qualität aus. «Die Wehrlis waren hervorragende Fotografen. Ihre Bilder sind an der Schnittstelle zwischen Dokumentarfotografie und ästhetischer Fotografie.»
Wer sich online durch die Fotografien klickt, wird Kathrin Gurtner beipflichten. Die Porträts sind ausdrucksstark, die Gebirgs- und Seelandschaften dramatisch. Bilder, die den einstigen Stellenwert der Ansichtskarte erahnen lassen.
Die Postkarte behält ihre Faszination
Ab 1869 erobert die Postkarte als schnelles Kommunikationsmittel von Österreich aus Europa. Wenig später gibt es die ersten Karten mit Bildsujets, die mit dem aufkommenden Tourismus rasch beliebt werden. Und trotz Social Media und Postkarten-Apps behalten gedruckte historische Ansichtskarten ihre Faszination bis heute. Wie anders sahen Städte und der Strassenverkehr früher doch aus! Wie köstlich der Zeit entrückt wirken heute die Hotelpostkarten von einst.
Wenn jemand um diese Faszination weiss, ist es André Weibel. «Ansichtskarten sind ein wichtiges Kulturgut, sie sind Zeitdokumente im Kleinformat», sagt der frühere Inhaber einer Baufirma. In seinem Wohnort im basellandschaftlichen Lausen hat er ein dickes Fotobuch aufgeschlagen. In den Kunststofftaschen sind frühe Postkarten aus Europa zu sehen und handkolorierte Ansichtskarten von Ermatingen. Weibel hat das Buch als Dokument der Kartengeschichte angelegt.
Alte Musterbücher und gusseiserne Kartenständer
Seit gut 60 Jahren sammelt André Weibel Post- und Ansichtskarten. Zusammen mit seinen Kollegen von der Ansichtskartensammler-Vereinigung gibt er zudem eine Zeitschrift zum Thema heraus. Der Rentner beschäftigt sich täglich mit seiner Passion. Was er über die Jahre zusammengetragen hat, zeigt er auf einem kurzen Rundgang. In einer ehemaligen Arztpraxis lagern unzählige Bananenschachteln und Umzugskartons, alte Musterbücher und ein gusseiserner Kartenständer.
In den früheren Büros seiner Firma unweit der Praxis sind die Wände voll mit Fachliteratur. Erzählt Weibel von Bromsilberkarten, Firmen und Künstlern, springt er immer wieder auf und zieht treffsicher Bücher aus den Regalen: Aargauer Rüebli-Karten, Verlagschroniken, eine Monografie des österreichischen Illustrators Raphael Kirchner. Dessen Jugendstil-Porträts haben es Weibel besonders angetan.
Nachlässe aus ganz Europa
Etwas später in einem Ladenlokal in Lausen. Hier lagert Weibel Ansichtskarten, die zum Verkauf stehen, und bietet Beratungen an. «Ich bin mittlerweile so bekannt, dass Nachlässe aus ganz Europa zu mir kommen», erzählt er. Doch der fehlende Sammlernachwuchs macht ihm Sorgen. Ebenso wie die Zukunft seines eigenen Archivs. Sein Traum: die Sammlung in eine Stiftung überführen. «Die Ansichtskartenindustrie war einst riesig. Das fasziniert mich, und ich möchte einfach all diese Verlage und Künstler würdigen.»
Kaum hat er es gesagt, fällt sein Blick auf ein dickes, ledereingebundenes Buch auf einem Rollwagen. Auch das stammt aus einem Nachlass. Weibel schlägt es auf und betrachtet kurz gedankenversunken die Ansichtskarten: Porträts und Winterlandschaften, Stillleben und Blumenbouquets – jede eine kleine Zeitreise.
Photoglob-Wehrli online
www.helveticarchives.ch
commons.wikimedia.org
Ansichtskartensammler-Vereinigung
www.aksv-ch.ch