Verstecken sich hier Abgründe, oder ist die Feststellung leichthin gemeint? «Es gibt Dinge, die ich gerne anders hätte.» Das sagt Christina Sonderegger, Kuratorin am Schweizerischen Nationalmuseum. Sie sagt aber auch: «Ich bin zufrieden. Es gibt nichts, mit dem ich wirklich unzufrieden wäre.» Sie zieht mit 55 Jahren eine durchmischte Lebensbilanz im Buch «In Glücksmomenten bin ich weder jung noch alt – Zwölf Porträts von Menschen nach der Lebensmitte» des Autors Claude Weill. Er legte diesen 31 Fragen vor, von denen sie zwischen sieben und zwölf zur Beantwortung aussuchen konnten. Ihre Ausführungen ergeben für den Leser spannende Porträts, die im Einzelfall schicksalhafte Abgründe eröffnen.
Besonders berührend ist der einzige Mail-Verkehr im Buch, mit Weills journalistischem Weggefährten Mathias Klemm, der in der Befragungszeit eine Krebsdiagnose erhielt und ein paar Monate später verstarb. Der in Toulouse lebende Klemm fühlte sich in jungen Jahren einem «humanen Sozialismus» verpflichtet. Doch mit 71 hat er seinen Idealen entsagt und bekennt: «Statt recht zu haben, möchte ich lieber zur Dialogbereitschaft beitragen und zu meinen eigenen Widersprüchen stehen können.» Verbittert wurde Klemm nicht: «Glaube ich an das Gute im Menschen? Ja, von Fall zu Fall, auch wenn es für mein Empfinden der Mehrheit der Erdenbewohner an geeignetem Denkvermögen fehlt.» Was etwas überheblich tönt, ist es nicht: Klemm konnte als 71-Jähriger immer noch nicht verstehen, weshalb es zu Konflikten und Kriegen kommt.
Diese Widersprüche zwischen Idealen und einem geordneten, sozial abgesicherten Leben schimmern in fast allen Gesprächen durch, sind aber nicht allen Befragten gleichermassen bewusst. Die meisten Interviewten standen zwar im Bann der 1968er-Rebellion, fühlten sich aber von dieser in unterschiedlichem Mass geprägt.
Intensität der Widersprüche
Die Pflegefrau Ursula Eberle etwa ist im Vergleich zu Klemm weniger politisiert. Sie bedauert, keine Familie gegründet zu haben. Eine feine Hinwendung zum Spirituellen scheint ihren Schmerz etwas zu lindern.
Eher wieder in die Richtung von Mathias Klemm zielen die Überlegungen des 73-jährigen Jochi Weil, eines ehemaligen Linksaktivisten: «Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen: Die Welt und die Menschheit sind nicht veränderbar im Sinne emanzipatorischer Entwürfe.» Aber er gibt die Hoffnung nicht auf, auch wenn er im Einzelfall fast verzweifelt. Als agnostischer Jude leidet er an der Politik Israels, die positiven Seiten des Staates will er sich jedoch nicht nehmen lassen. Jochi Weil verkörpert wie fast kein zweiter die Intensität der Widersprüche, unter denen seine Generation leidet.
Lesung
Fr, 14.7., 20.00
Kaffee Augenblick Winterthur
Buch
Claude Weill
«In Glücksmomenten bin ich weder jung noch alt»
151 Seiten
(Edition 8 2017).