Die Bilder der Flucht aus Syrien haben sich tief in ihr eingeprägt, dennoch hat Latcheen Maslamani ihr Lachen nicht verloren. Seit 2014 lebt die 27-Jährige in Genf, hat im Rekordtempo Französisch gelernt und steht mittlerweile kurz vor dem Abschluss an der Hochschule für Soziale Arbeit.
Von Wurzeln und dem Leben im neuen Land
Diesen Weg musste sie sich hart erkämpfen, zumal für vorläufig aufgenommene Flüchtlinge mit Aufenthaltsstatus F viele Türen verschlossen bleiben. «Ich war als Kurdin in Syrien schon nicht willkommen – und nun bin ich in der Schweiz nicht willkommen. Dieses Gefühl, nichts wert zu sein, das ist extrem hart», sagt sie im Interview im neuen Porträtband «Zweiheimisch» der Journalisten Rahel Lüönd und Daniel Schriber sowie des Fotografen Paolo De Caro.
Die beiden Autoren widmen sich mit Feingefühl zwölf Menschen, die nebst der Schweiz noch ein anderes Heimatland haben. In Porträt- oder Interviewform, auch mal mit Tagebuchaufzeichnungen oder aus der Perspektive der Ich-Erzählerin, berichten sie von Fluchterfahrungen, von den Wurzeln und dem Leben im neuen Land. Von Menschen wie Irena Pechous, die 1968 nach dem Prager Frühling in die Schweiz flüchtete und optimistisch geblieben ist: «Das Unbekannte weckt wohl Ängste, beflügelt aber auch die Fantasie und vermag im Menschen neue Fähigkeiten und Kräfte zu wecken.» Oder von Thierry Gnahoré, der im Kanton Bern geboren ist, aber wegen seiner schwarzen Hautfarbe immer wieder mit Rassismus konfrontiert ist. Heute hat er sich in der Musikszene als Nativ einen Namen gemacht und rappt: «Du fragsch würklech / Werum ig mi immer ha schwerzer gfüut aus wyss? / Isch ganz eifach / Wäge öich.»
Die spannenden Porträts sind mit kurzen, informativen Texten angereichert, die auf die Situation im jeweiligen Land und ihre Beziehung zur Schweiz eingehen. So überzeugt «Zweiheimisch», das dritte Buch aus dem jungen Verlag Édition De Caro, durchwegs mit seinem schlichten Design und berührenden Geschichten, die den Horizont erweitern.
Buch
Rahel Lüönd & Daniel Schriber
Zweiheimisch
184 Seiten, mit Fotografien von Paolo De Caro
(Édition De Caro)
5 Fragen an Verlegerin Rachele De Caro: "Tschingg› zu hören, das war Alltag für uns"
kulturtipp: Sie haben mit Ihrem Bruder Paolo De Caro in wirtschaftlich unsicheren Zeiten einen Verlag für Sachbücher gegründet. Warum?
Rachele De Caro: Angefangen hat alles mit dem Buch «Junge Macherinnen», für das ich die Porträts gemacht habe und mein Bruder Paolo als Fotograf und Gestalter dabei war. Zwei renommierte Schweizer Verlage wollten mit uns das Buch umsetzen. Wegen der geringen Entlohnung haben wir uns aber entschlossen, es im eigenen Verlag zu publizieren. So mussten wir zwar die Finanzierung selber regeln, waren jedoch in der Umsetzung frei. Eine Herausforderung war, den ganzen Vertrieb zu organisieren. Wir hatten ja bis anhin keinerlei Erfahrung in der Buchbranche. Aber das Buch kam gut an, und wir konnten uns in der Branche einen Namen machen.
Was bedeuten Ihnen Bücher?
Für uns sind Bücher etwas Ästhetisches, etwas Haptisches und etwas zum Eintauchen. Man nimmt sich Zeit, um ein Buch zu lesen. Das ist in unserer schnelllebigen Zeit sehr kostbar. Darum wollen wir keine Schnellbleichen machen, sondern qualitativ hochwertige Bücher in Inhalt und Gestalt.
Welche Bücher finden im Programm der Édition De Caro Platz?
Wir wollen Bücher machen, die gesellschaftliche Phänomene aufgreifen, die Menschen zum Reflektieren bewegen und Diskussionen anstossen. Und für all unsere Bücher gilt, dass Design und Ästhetik die Basis sind und nicht erst am Schluss wie eine Maske daraufgelegt werden. Gestaltung und Inhalt sind gleich gewichtet. Die Grundlage für dieses Verständnis sind sicher unsere Ausbildungen: Mein Bruder hat Kommunikations-Design an der ZHdK studiert und ich Design- Management an der Hochschule Luzern.
«Zweiheimisch» ist das dritte Buch des Verlags. Was hat Sie daran besonders interessiert?
Die Projektidee stammt von Rahel Lüönd, der Co-Autorin des Buches. Uns interessierte es, das Thema Migration in einem neuen Licht erscheinen zu lassen, die Menschen als Individuen zu zeigen und nicht als Zugehörige einer stereotypisierten Gruppe. Wir wollten ihre Geschichten, Erfahrungen, Lebenswelten abbilden und zeigen, dass Ein- oder Auswanderung stets das Resultat von komplexen Umständen sind.
Der Band erzählt von Menschen, die in die Schweiz eingewandert sind. Welche persönliche Familiengeschichte verbinden Sie und Ihr Bruder mit dem Thema?
Bei jeder Geschichte, die ich gelesen habe, habe ich mich selber wieder mit meiner eigenen Geschichte auseinandergesetzt. Unsere Mutter wanderte als 25-Jährige von Einsiedeln nach Italien aus und verliebte sich dort in meinen Vater. Als sie mit mir hochschwanger war, verstarb er an einem Herzinfarkt. Kurz danach kehrte meine Mutter mit meinem Bruder und mir nach Einsiedeln zurück. Mit einer alleinerziehenden Mutter wuchsen wir in einfachen Verhältnissen auf, doch die Kindheit in Einsiedeln war wunderschön. Durch das Buch «Zweiheimisch» wurde mir jedoch wieder bewusst, dass auch wir Alltagsrassismus ausgesetzt waren. «Tschingg» zu hören, das war Alltag für uns. Wir haben uns dann mit den anderen «Zweiheimischen» zusammengetan und waren so wohl schon seit jeher irgendwie dazwischen. Vielleicht sind wir darum beide sehr empathisch und tolerant.