Nur eine Künstlerin fasst ein Gemälde so bestimmt an: Mit beiden Händen nimmt Mireille Gros das Bild von der Wand und stellt es auf den Boden. Dann tritt sie hinter die gut zwei Meter hohe Leinwand und dreht sie mit einer einzigen, schwungvollen Bewegung auf den Kopf. Das Gemälde zeigt eine leicht abstrakte, vom Mond erhellte Dschungellandschaft. Und dahinter ist Mireille Gros nun für einen kurzen Augenblick nicht mehr zu sehen. Könnte sie selbst diese Szene als Zuschauerin beobachten, sie würde sich bestimmt freuen: Die Künstlerin ist verschwunden, nur ihr Werk zieht jetzt den Blick auf sich.
Manche Werke erinnern an bunte Comics
Das Atelier von Mireille Gros ist eines von zweien, welche die 68-jährige Künstlerin in Basel gemietet hat. Der Raum im früheren Novartis-Gebäude hat eine hohe Decke, der Boden ist mit dickem Abdeckpapier abgeklebt. Hier arbeitet sie an grossformatigen Bildern wie der Dschungellandschaft – an diesem Nachmittag das einzige Werk im früheren Büro. Gros hat es nach der 180-Grad-Drehung wieder an die Wand gehängt, betrachtet es nun aus etwas Distanz. Doch, so rum muss es sein! Schon bald wird das Gemälde zusammen mit weiteren Arbeiten in der Schau «Vielfalt der ARTen» im Kunsthaus Zofingen zu sehen sein.
Neben «Dschungelergänzungen» im Museum Franz Gertsch ist das die zweite Einzelausstellung, die aktuell der Künstlerin gewidmet ist. Kaum erstaunlich: In Zeiten, in denen wir vermehrt über Klimawandel und Artensterben diskutieren, interessiert Gros’ Fokus. Denn ihre Zeichnungen und Gemälde, Installationen und Videoarbeiten widmet sie mit Vorliebe Pflanzen und Wäldern. Die kleinformatigen Arbeiten ihres Werkzyklus «fictional plant biodiversity» etwa erinnern mal an bunte Comics, mal an botanische Zeichnungen aus dem 18. Jahrhundert. Da wogen Blütenstände im Wind, überall spriesst es, öffnen sich Knospen, entrollen sich Farne. Manche der Gewächse sind delikat. Andere sind dornig und struppig – wehe dem, der sie anfasst. Doch sie alle haben etwas gemeinsam: In keinem Bestimmungsbuch der Welt wird man sie finden. Sie sind allein die Erfindung von Mireille Gros. Und deren Schöpfungen prosperieren.
Wie sehr es die Pflanzenwelt der Künstlerin angetan hat, wird deutlich, wenn sie von ihrer Freude am Biologieunterricht in der Schule erzählt. Oder vom Taï-Nationalpark der Elfenbeinküste, dem letzten Primärregenwald Westafrikas, den sie im Jahr 1993 besuchte. «Dort fühlte ich mich in der Zeit zurückversetzt», sagt sie und berichtet von urtümlichen Vögeln und Gewächsen, die es sonst nirgends mehr gibt. Und wie öfters während des Gesprächs entlädt sich ihre Begeisterung in einem ansteckenden Lachen oder im langgezogenen Vokal eines «Toll!». Nur wenn es um das vermehrte Interesse an ihrem Schaffen geht, meint man, Skepsis in ihrem Ton auszumachen. «Es ging mir in meiner Kunst nie einfach um Biodiversität» – diesen Satz hört man an diesem Nachmittag zweimal von ihr.
Vom Nutzen des Nutzlosen
Mit zügigem Schritt folgt Mireille Gros einer Quartierstrasse Richtung Norden. In fünf Minuten Entfernung liegt ihr zweites Atelier. Auf dem Weg dorthin berichtet sie von Busfahrten in Mali und vom Feilschen auf chinesischen Märkten. Ja, wer wissen will, worum es Gros in ihrer Kunst geht, spricht mit ihr am besten über ihre Auslandreisen. «Es gibt viele Aspekte in einem drin, die man in der eigenen Kultur nicht entfalten kann», sagt sie. Erst an fremden Orten habe sie diese ausleben können. Dann spricht sie zum Teil auf Chinesisch einen ganzen Dialog eines Marktbesuchs nach. Nicht um anzugeben, nein, um zu verdeutlichen, weshalb es ihr die chinesische Philosophie des Daoismus so angetan hat. Alles habe stets zwei Seiten, erklärt sie. Das Nutzlose habe einen Nutzen und die Wahrheit finde man im Dialog.
Was dies für ihr künstlerisches Arbeiten bedeutet, zeigt sie wenig später im zweiten Atelier. Es liegt in einem der oberen Stockwerke eines alten Mehrfamilienhauses. Zwei Fenster geben den Blick frei auf einen kurzen, von Pappeln gesäumten Rheinabschnitt. Daneben sieht man grosse Öltanks und Industriegleise. Auf die weiss gestrichenen Wände hat Gros Sätze, Ideen und Worte geschrieben, die auf irgendeine Art schon im Gespräch aufblitzten. «The use of the useless», steht da etwa. «Instinktverstärkungselixiergarten» ist auch so ein Wort, das irgendwie einfach Sinn ergibt. Hatte sie nicht zuvor gesagt, der schönste Zustand des Kreativseins sei der selbstvergessene, intuitive? Jetzt hebt sie eine der kleinformatigen Arbeiten auf, die rund um den Arbeitsraum an der Wand lehnen. Sie legt das Bild auf das Pult am Fenster. «Jeder Pinsel, der ein Papier berührt, schafft einen Dialog», sagt sie, hält einen imaginären Pinsel über das Bild. «Hier habe ich Natur gespielt: Ich habe den Pinsel angesetzt und etwas wuchs. Bis hierhin, dann war vielleicht Winter; dann kam der Frühling, und es wuchs weiter. So habe ich einen Bambus erfunden.»
Bald wird die Sonne das zarte Grün berühren
Sie stellt das kleine Bild zurück. Grün reckt sich darauf. Ein einzelnes, deutlich erkennbares Bambusrohr mit Wachstumsknoten. Noch ist die Pflanze weit entfernt vom schmalen Streifen Sonnenlicht, der an diesem Tag über das unterste Viertel der Atelierwand wandert. Nach und nach wird das Licht auf jedes der dort angelehnten Pflanzenbilder fallen. Irgendwann, später am Nachmittag, erreicht die Sonne vielleicht auch den kleinen Bambus. Ob er dann noch etwas weiterwächst?
Mireille Gros – Dschungelergänzungen
Bis So, 19.6. Museum Franz Gertsch Burgdorf BE
Vielfalt der ARTen – Mireille Gros
Sa, 7.5.–So, 26.6. Kunsthaus Zofingen AG