Wie sich die ersten Eindrücke gleichen. Da ist, im Januar 2002, mein eigenes Interview mit Oliver Sacks in Zürich über seine Kindheitserinnerungen im Buch «Onkel Wolfram». Das Fenster im Hotel steht trotz der Kälte weit offen, und der mit seinen Fallgeschichten berühmt gewordene New Yorker Neurologe spricht übers Schwimmen und stürzt sich in die Geheimnisse der Chemie, weicht aber den Geheimnissen der Sexualität gezielt aus. Und reagiert geradezu begeistert auf das Tonbandgerät, seiner markanten Farbe wegen.
«Süchtig nach Geschichten von Menschen»
Zwei Jahrzehnte zuvor lernt Lawrence Weschler Oliver Sacks kennen. Er suchte für die Zeitschrift «New Yorker» nach einem Thema, auf das er seine «langsame, ausdauernde Aufmerksamkeit richten konnte». So beschreibt er es in der Einleitung zu jenem Porträt, das er nun, sechs Jahre nach Sacks’ Tod, diesem aussergewöhnlichen Menschen gewidmet hat. Sacks sei «ein grosser kräftiger Mensch, der zu kindisch-lausbübischen Ausbrüchen neigt», notiert Weschler. «Er respektiert Fakten und besitzt die Leidenschaft des Naturwissenschafters für Genauigkeit, aber er ist auch fest davon überzeugt, dass Fakten in Geschichten eingebettet und durch sie vervollständigt werden müssen. Und nach Geschichten – Geschichten von Menschen – ist er wirklich süchtig.»
Der Journalist Lawrence Weschler macht sich auf, Oliver Sacks’ eigene Geschichte zu erkunden, lernt das Londoner Elternhaus kennen, den Vater und den gestörten Bruder. Hört viel über die kühle Mutter, die schon tot ist – und die ihren Sohn verdammt hat, als sie von seiner Homosexualität erfuhr. Zahllos die Spaziergänge, die Weschler und Sacks unternehmen, zahllos die Abende, die sie in asiatischen Restaurants mit Essen verbringen und an denen Sacks, in eine seiner Geschichten vertieft, gern auch die Portion seines Gegenübers verdrückt. So wird aus dem Kennenlernen Freundschaft. Doch das geplante Buch kommt nicht voran. Sacks will, dass Weschler das Sexuelle ausklammert, Weschler aber kann das nicht. Denn in den Geschichten dieser geschädigten, oft unbeugsamen Menschen, über deren seltsame Erkrankungen Sacks mit so grosser Hingabe schreibt, dass er ein Millionenpublikum findet, spiegelt sich sein eigenes Ausgeschlossensein.
Von den wilden Jahren bis zur letzten Liebe
Erst als es aufs Sterben zugeht, bittet Oliver Sacks seinen Freund, er möge nun dieses Buch schreiben. Was Weschler jetzt vorlegt, gleicht einem unübersichtlichen, aber umso faszinierenderen Mosaik. Er folgt den Notizen, die er über die Jahre gemacht hat, gibt Gespräche mit Freunden wieder, schildert Besuche in jenen Heimen, in denen Sacks arbeitete. Er beschreibt seine wilden Jahre als drogensüchtiger Biker und Gewichtheber in Kalifornien und jene Zeit, in der der junge Oliver zusammen mit seinem Bruder in einem Kinderheim gequält wird. Noch eine lebenslang prägende Erfahrung.
Doch nicht Unglück, sondern Glück beschliesst das «persönliche Porträt». Sacks findet noch einmal einen Geliebten und wagt sich mit ihm sogar an die Öffentlichkeit.
Buch
Lawrence Weschler
Oliver Sacks – Ein persönliches Porträt
479 Seiten
(Rowohlt 2021)