Seine auf CD vorgelegten Interpretationen sind oft von kristalliner Klarheit. Bachs Partiten etwa, die in ihren intensivsten Momenten etwas wundervoll Tastendes haben. Oder Beethovens frühe Sonaten, die er spannungsvoll, fein ziseliert, lebendig und heiter spielt. Dann wieder taucht er mit Franz Liszt und Ferruccio Busoni hinab in die dunklen Tiefen der menschlichen Seele: in Stücken, «die kaum ein anderer Pianist zu spielen wagt», wie der Musikkritiker Peter Hagmann über einen Auftritt im KKL Luzern schreibt.
Tagebuch eines verlorenen Jahres
Er kann viel, dieser Igor Levit, der im März dieses Jahres 34 Jahre alt geworden ist. Und der jetzt in «Hauskonzert» des Journalisten Florian Zinnecker sein erstes Porträt in Buchform bekommen hat. Das Kühne, Monumentale zieht ihn geradezu magisch an. Im November 2019 spielte er an der Musikhochschule Hannover die «Passacaglia» des schottischen Komponisten Ronald Stevenson: Schwerstarbeit für ein Stück, das kaum jemand kennt. Die Mutter macht sich Sorgen, ob das Publikum mitgehen wird. Aber sie sagt Igor nichts. «Er braucht diese Extremsituationen, er sucht sie auch», erklärt sie Zinnecker. «Und dann stelle ich fest, oh, die 90 Minuten sind um, und ich möchte die Geschichte weiter hören.»
Doch es gibt noch einen anderen Levit. Den Mann, der Twitter für sich entdeckt hat und der diesen Kanal gerne nutzt, um zu bekämpfen, was er selber auch erlebt hat: einen gerade wieder grassierenden Antisemitismus. Manchmal greift er dabei selber zur grossen Keule, was Zinnecker in seinem Buch aber nicht wirklich problematisiert.
So wird Igor Levit zu einem der öffentlichsten Künstler unserer Zeit, der in seiner Nahbarkeit wie geschaffen ist für die Welt von Social Media. Doch in dieses von wichtigen Anliegen und aufregenden Projekten wimmelnde Leben bricht im März 2020 die Pandemie ein und bringt es abrupt zum Stillstand. Auch Zinneckers Buchprojekt erfährt nun eine tiefgreifende Umformung. Es wird zum Tagebuch eines verlorenen Jahres. Der Künstler hängt fest in Berlin, gibt Hauskonzerte, die er übers Handy überträgt und für die er enormes Echo erntet.
Einzig der Blick in die Seele fehlt
In langen Gesprächen erkundet Florian Zinnecker Igor Levits Leben und lässt unter anderem die Mutter erzählen, die ihren Sohn begleitet auf seinem künstlerischen Weg. Doch so facettenreich das entworfene Bild auch ist: Zwischendurch erliegt der Autor der Versuchung aller Porträtisten, ihren Helden auf ein Podest zu stellen. Nur selten kommt zur Sprache, was Igor Levit mit der Musik anstellt. Vor allem aber: Florian Zinnecker erkundet die Seele dieses Ruhelosen nicht, der nicht schlafen und nicht allein sein kann – und auch damit ein Spiegel unserer Zeit ist. Nur einmal öffnet sich eine kleine Tür, als Igor Levit sagt, seine innere Situation habe auch damit zu tun, «dass ich – teils selbstverschuldet, teils auch nicht – seit viereinhalb Jahren allein bin». Doch Zinnecker verpasst es, nachzufragen.
Igor Levit/
Florian Zinnecker
Hauskonzert
300 Seiten
(Hanser 2021)