Pop- und Rockbiografien gehen meist den gleichen Weg. Er beginnt mit Kindheitserinnerungen und führt über romantische Horrorgeschichten aus der Teenagerzeit zu den ersten, stark alkoholisierten Bandproben. Wie durch ein Wunder hat man plötzlich einen Hit, dann noch einen und noch einen, kutschiert im Learjet durch die Welt und ist todunglücklich.
Es kommt der Absturz in die Drogen, der Entzug und endlich die Einsicht: Star sein bringt nichts. Jetzt ist man auf Seite 260 angelangt, zieht aufs Land, füttert die Hühner, ist glücklich – und das gibt dann noch die letzten acht Seiten her. Über die Triebkraft, die das Musizieren dermassen wichtig macht, dass es ohne nicht geht, egal, welche finanziellen und emotionellen Leiden es mit sich bringt, ist selten viel zu erfahren. So war es jedenfalls vor dem Lockdown.
Jarvis Cockers entrümpelt seinen Dachboden
Nun zeigt es sich, dass der musikalische Zeitgeist dank der aufgezwungenen Isolation die Freuden von Stille und Selbstreflexion entdeckt hat. Neblige Kompositionen, die über den Horizont gleiten wie Schäfchenwolken, gehören plötzlich zum Mainstream. Die Meditationsmusik von Alice Coltrane erlebt eine Renaissance. Viele Musiker haben sich während der fahlen Zeit an die Schreibmaschine gesetzt.
Eine Handvoll Autoren haben dabei sogar neue Wege gefunden, um dem Geheimnis des glänzenden Einfalls auf den Grund zu gehen. Der aus Sheffield stammende Jarvis Cocker war schon immer ein schräger Vogel. 17 Jahre lang vegetierte er mit seiner Band Pulp am Rand der unabhängigen Indie-Szene, ehe er mit dem in Platinmengen abgesetzten Album «Different Class» und der zeitzeichenhaften Single «Common People» quasi über Nacht zum Superstar avancierte. «Good Pop, Bad Pop: Die Dinge meines Lebens» heisst sein Memoirenband. Es gehe ihm nicht darum, die seltsamen Wege des kreativen Schaffens zu entzaubern, erklärt der Musiker.
Aber am Schluss heisst es, er habe im Nachhinein bei der Lektüre 40 Momente entdeckt, die direkt zum Entstehen eines Liedes geführt hätten: «Ich werde nicht verraten, welche Songs es sind – das wäre illegal.» Die Form seines Buchs ist geradezu genial. Cocker muss seinen Estrich entrümpeln und bei jedem Gegenstand einen Entschluss fassen: behalten oder nicht behalten?
Der Katalog beginnt mit einem uralten Päckchen Wrigley’s Extra-Kaugummi (zuckerfrei) und hört auf mit dem Brief, mit dem er informiert wird, dass er in die Central School of Art and Design in London aufgenommen worden sei. Dazwischen begegnen wir einem Sammelsurium von bekritzel- ten Biertellern, Polyester-Hem- den, Konzerttickets, Bierdosenöffnern, zerbrochenen Brillen und einer Seife, die noch im Originalumschlag steckt: dem letzten im alten Design von Cussons Imperial Leather. Witzig, ironisch und liebevoll erklärt Cocker, warum ihm der eine Gegenstand genug bedeutet, dass er ihn behalten will, der andere aber nicht. Das liest sich alles ungemein süffig, packt das Phänomen «Muse» an den Wurzeln und übersetzt die Geschichte vom Froschkönig in unseren Alltag: Nichts im Leben ist so nebensächlich, dass wir es mit etwas gutem Willen nicht in Worte und Melodien verzaubern können.
Jeff Tweedys Ratgeber zum Songschreiben
Jeff Tweedy führt seit fast 30 Jahren die in Chicago beheimateten Wilco, eine der innovativsten Gitarrenbands weit und breit. Der Titel seines zweiten Buchs (das erste war ein feiner Memoirenband) «Wie schreibe ich einen Song» ist weder überrissen noch banal. Tweedy geht davon aus, dass uns allen die Fähigkeit gegeben wäre, mit etwas Übung und Einsatz ein Lied zu schreiben, wenn wir nur nicht diesem Teufelchen zuhörten, das uns einflüstert, es käme eh nur Blech heraus. Während fast der Hälfte dieses wunderbaren kleinen Buches bemüht Tweedy sich, uns zu erklären, wie wir das Teufelchen zum Schweigen bringen können.
«Einfach anfangen», so ungefähr lautet das Rezept. Sich fünf Minuten – oder auch ein paar Stunden – Zeit nehmen, den erstbesten Gedanken aus der Luft picken und loslegen. Es folgen allerhand Übungen, wie wir – wenn wir einmal angefangen haben – besser werden können. Die Lektüre ist erfrischend. Zwar dreht sich im Detail alles um das Lied. Tweedys Einsichten in die Mechanik und die Psychologie des Komponierens lassen sich indes ohne Weiteres auf andere kreative Schaffensbereiche übertragen.
Einen wieder anderen Weg, dem Mysterium des Kreierens auf die Schliche zu kommen, hat Nick Cave eingeschlagen. Sein Buch «Glaube, Hoffnung und Gemetzel» enthält ein einziges, langes, im Lockdown begonnenes Gespräch, das Cave über mehrere Etappen mit dem Journalisten Sean O’Hagan führte. Es dreht sich immer wieder um die Entstehungsgeschichten der Alben «Skeleton Tree» (2016), «Ghosteen» (2019) und «Carnage » (2021). Diese wiederum reflektieren die Trauer um seinen Sohn Arthur, der 15-jährig zu Tode stürzte.
Ergreifende Lektüre mit Nick Cave
Interviewbände mit Musikern sind nichts Neues. Neu an diesem den legendären, literarischen «Paris Review»-Interviews nachempfundenen Buch ist der Inhalt: eine filigrane Auseinandersetzung mit Trauer, Kreativität, Freundschaft und Gott. Dies ergibt nicht zuletzt darum eine ergreifende Lektüre, weil der Interviewer – ein Freund von Nick Cave – die religiöse Ansichtsweise nicht teilt und sich rechtens bemüht, zu verstehen, was sein Gegenüber meint. Und wir tun es gerne auch…
Bücher:
Jarvis Cocker - Good Pop, Bad Pop:
Die Dinge meines Lebens
(Kiepenheuer & Witsch 2022)
Jeff Tweedy - Wie schreibe ich einen Song
(Heyne 2022)
Nick Cave, Sean O’Hagan - Glaube, Hoffnung und Gemetzel
(Kiepenheuer & Witsch 2022)