Die Beliebtheit von Pokémon Go ist in dieser Jahreszeit noch gering, man begegnet unterwegs selten anderen Spielern. Aber von Juli bis September konnte man in Berlin stundenlang im Lockmodulgestöber sitzen und dabei den Gesprächen anderer Pokémonisten zuhören. In Zürich versammelte man sich in der Halle des Hauptbahnhofs, und weil die Schweizer Infrastruktur der deutschen meistens überlegen ist, gab es dort sogar Steckdosen.
Diese Gespräche drehten sich immer um das Spiel. Zu Pokémon Go gibt es keine Anleitung, die Spieler müssen alles selbst herausfinden. Ohne Austausch von Tipps und Erkenntnissen mit anderen hat man es daher schwer. Mit allerdings auch, denn knapp 100 Prozent der an solchen Treffpunkten verkündeten Auskünfte sind Blödsinn. «Du musst das Handy aufs Klo legen und oft spülen, dann erscheint ein Schiggy!» WasserPokémon erscheinen gern in der Nähe von Gewässern, aber die Pokémon-App erkennt das Wasser durch Abgleich der Handykoordinaten mit Daten aus Google Maps und OpenStreetMap. Von Toiletten weiss sie nichts. «Wenn du das Handy an den Ventilator bindest, kannst du ganz viele Eier ausbrüten!» Auch das stimmt nicht, weil die Bewegung des Handys gar nicht ausgewertet wird – was zählt, sind wieder nur die GPS-Koordinaten.
Es waren keine Achtjährigen, sondern Erwachsene, die diese Gerüchte weiterverbreiteten. So muss es im Mittelalter zugegangen sein, als man einander mitteilte, welche Mittel sich zur Vorbeugung und Bekämpfung der Beulenpest eignen. Essigdämpfe! Waschungen mit Rosenwasser! Ein lebendes Huhn auf die Pestbeule halten! Eigenurintherapie!
Vielleicht kommt die Zombieapokalypse ja eines Tages doch, ein Asteroid zermalmt das Internet, oder Nachrichtendienste verbieten weltweit den Einsatz von Buchstaben, weil Terroristen bei der Planung ihrer Taten welche verwendet haben. Spätestens dann wird es wichtig, mit einer Welt umgehen zu können, zu der keine Anleitung mitgeliefert wird und in der widersprüchliche Gerüchte kursieren.
Der US-amerikanische Sprachwissenschaftler Daniel Everett beschreibt in seinem Buch «Das glücklichste Volk: Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas» die geringe Bereitschaft der Pirahã, irgendetwas zu glauben, was sie nicht direkt von Augenzeugen hören. Als die Pirahã erfahren, dass er die Geschichten aus der Bibel gar nicht persönlich miterlebt hat, ist das das Ende allfälliger Missionierungsversuche.
Auch auf Augenzeugen ist kein Verlass, weil sie im Moment des Verkehrsunfalls immer gerade in ihr Handy sehen. Aber wenn man sich nicht aus erster Hand informieren kann – zum Beispiel, weil der Verkehrsunfall oder das Erscheinen des Heilands in der Vergangenheit liegen –, ist der Bericht eines direkten Augenzeugen eine bessere Quelle als die lange Eimerkette des Hörensagens. Die Welt der Pirahã ist einer Welt nach der Zombieapokalypse nicht so unähnlich, nur ohne Zombies eben. Man wird mit der Gewohnheit, nur Augenzeugen zu glauben, keine Wissenschaft hervorbringen, aber auch nicht unnötig auf Gerüchte hereinfallen.
Bei Pokémon-Themen kann man an Augenzeugen geraten, die aus ihren eigenen Beobachtungen trotzdem die falschen Schlüsse ziehen. Wer sein Handy an einen Deckenventilator bindet, kann wirklich mehrere Kilometer pro Tag angerechnet bekommen. Das liegt aber daran, dass der Kontakt des Handys zu den umliegenden Handyfunkmasten und GPS-Satelliten wechselhaft ist. Der Ventilator hat nichts damit zu tun. Herausfinden wird man das nur, indem man beides testet: die angeblich zurückgelegte Strecke eines stationären Handys und die eines im Kreis bewegten. Und zwar am besten möglichst oft, damit man Zufallsschwankungen nicht mit eindeutigen Ergebnissen verwechselt. Diese Mühe macht sich niemand nur wegen eines Spiels.
Niemand? Fast niemand. Und bei einem weltweit verbreiteten Spiel sind «fast niemand» immer noch ziemlich viele Menschen. Sie tauschen sich zum Beispiel bei Reddit aus, wo es mal mehr, mal weniger forschungsorientierte Untergruppen zum Thema Pokémon Go gibt, zum Beispiel «The Silph Road». Weil ich das Geschehen dort verfolge, war ich an den Pokémon-Treffpunkten der Meinung, es besser zu wissen als die anderen. Ich vertraue allen Beiträgen, die mit «Ich habe da mal eine Tabelle angelegt . . .» beginnen. Zwar können auch Tabellen frei erfunden sein. Aber es ist selten nur ein einziger Teilnehmer, der sich so einer Frage widmet, und wenn die übrigen zu abweichenden Ergebnissen kommen, werden sie ihn das in den Kommentaren schnell wissen lassen.
Pokémon-erforschende Reddit-Gruppen ähneln in Idee, Struktur und Arbeitsweise frühen wissenschaftlichen Organisationen, zum Beispiel der 1660 gegründeten britischen Royal Society. Motto der Royal Society ist «Nullius in verba», also etwa: Niemandes Worten einfach so Glauben schenken. Wer bei «The Silph Road» Behauptungen aufstellen will, muss seine Gründe mitliefern und mit Widerspruch rechnen.
Pokémon Go ist einfacher zu enträtseln als die Beulenpest. Man kann leicht zu grossen Stichproben gelangen und zum Beispiel die letzten 10 000 gefangenen Pokémon oder die letzten 1000 ausgebrüteten Eier statistisch auswerten. Es gibt auf alle Fragen eine eindeutige Antwort. Und in vielen Fällen hat jemand diese Antwort bereits durch Analyse des Codes gefunden – ein Lösungsweg, welcher der Menschheit ausserhalb von Spielwelten bisher weitgehend verschlossen geblieben ist.
Die Untersuchung der Realität ist daher etwas komplizierter als die Pokémon-Forschung. Aber an den grundsätzlichen Überlegungen, wie man verlässliche Auskünfte von weniger verlässlichen unterscheiden kann, hat sich seit 1660 nicht so viel geändert.
Kathrin Passig
Die 1970 geborene deutsche Schriftstellerin Kathrin Passig schreibt ins und übers Internet. Im Jahr 2006 gewann sie den Ingeborg-Bachmann-Preis. Passig bezeichnet sich als «Sachbuchautorin und Sachenausdenkerin».