kulturtipp: Philipp Fleiter, seit über 80 Folgen befassen Sie sich im Podcast «Verbrechen von nebenan» mit Versicherungsbetrügern, Serientätern und Giftmörderinnen. Vertrauen Sie Ihren Mitmenschen überhaupt noch?
Philipp Fleiter: (lacht) Ich kann glücklicherweise sagen, dass ich ein optimistischer Mensch geblieben bin. Man muss sich einfach immer wieder bewusst machen, dass diese Verbrechen, über die ich da spreche, nur einen kleinen Ausschnitt der Gesellschaft abbilden. Und mir hilft auch mein journalistischer Hintergrund: Ich habe gelernt, eine gewisse Distanz zu den Inhalten zu wahren. Es wäre ungesund, wenn ich diese Fälle in den Feierabend mitnehmen würde.
kulturtipp: Was möchten Sie mit Ihrem Podcast auslösen?
Philipp Fleiter: Natürlich sollen die Hörerinnen und Hörer unterhalten werden. Aber es geht mir schon auch darum, dass sie etwas lernen. Oft habe ich ja Kriminalpsychologen, forensische Psychiater oder Forensiker bei mir zu Gast. Zudem finde ich es ganz wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir auf unsere Mitmenschen achten sollten. Die Quintessenz dieser Fälle ist oft: Sie hätten verhindert werden können, wenn zum Beispiel die Nachbarn vorher mal genauer hingeschaut hätten.
kulturtipp: Was hat das Hören eines solchen Podcasts mit Krimischauen gemeinsam?
Philipp Fleiter: Die Faszination für das Böse ist so alt wie die Menschheit selbst. Und die Auseinandersetzung damit ist immer auch eine mit sich selbst. Grundsätzlich lieben wir doch die Spannung, wir steigen ja auch freiwillig in eine Achterbahn. Wir erleben einen kurzen Moment der Angst, des Mitfieberns, wissen aber gleichzeitig, dass uns gar nichts passieren kann.
kulturtipp: Sehen Sie darin den Schlüssel zum generellen Erfolg des Genres True Crime?
Philipp Fleiter: Was Podcasts betrifft, spielt auch Corona eine Rolle. Die Menschen hatten einfach mehr Zeit, was vielen Formaten einen Schub gab. Was True Crime im Allgemeinen betrifft: Wir leben in einer Zeit, die wir als kompliziert und unsicher wahrnehmen. Kriege, Umweltkatastrophen, Krankheiten wie Corona. Kriminalgeschichten hingegen haben meistens ein sehr einfaches Schema. Jemand begeht ein Verbrechen, die Ermittler sind hinter den Tätern her, verhaften sie – Prozess, Urteil, Gefängnis. In dieser Einfachheit kann ein Krimi oder ein True-Crime-Podcast auch eine Art Flucht sein.
kulturtipp: Inwiefern ist Ihre Arbeit eine Gratwanderung zwischen Aufarbeitung und Sensationslust?
Philipp Fleiter: Ich versuche, die Sensationslust nicht zu sehr zu bedienen. Mein Interesse gilt nicht den blutigen Details, sondern dem psychologischen Hintergrund. Was ist passiert, dass ein Mensch zu einem Verbrecher geworden ist? In welchen Momenten hätte sich diese Person auch für einen anderen Weg entscheiden können?
kulturtipp: Gerade bei Fällen aus der Vergangenheit sprechen Sie oft auch über die jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen. Wie wichtig ist Ihnen dieser Aspekt?
Philipp Fleiter: Verbrechen erzählen sehr oft etwas über die Gesellschaft, in der sie passieren. Schauen wir uns zum Beispiel Christa Lehmann, die «Gifthexe von Worms», an: Eine Frau, die in den 1950ern ihren Ehemann und weitere Menschen vergiftet hat. Frauen konnten sich damals in Deutschland gar nicht scheiden lassen – sie wären finanziell und gesellschaftlich völlig am Ende gewesen. Für Lehmann war das Vergiften des Ehemanns die einzige Möglichkeit, aus einer unglücklichen und gewaltsamen Ehe zu entkommen. Ich will die Tat damit nicht gutheissen. Aber es soll helfen, sie zu verstehen.
kulturtipp: Entscheiden solche Hintergründe auch bei der Auswahl der Fälle?
Philipp Fleiter: Ja. Mir geht es nicht einfach ums Nacherzählen der Fälle. Ich möchte immer etwas finden, von dem ich sage: Da lerne ich etwas Neues, dazu möchte ich mehr erfahren. Bald kommt zum Beispiel eine Folge heraus, in der es um den letzten Zivilisten geht, der auf deutschem Boden Opfer der Todesstrafe wurde. Das war in der damaligen DDR. Ich fand es spannend, mich nochmals mit diesem menschenverachtenden System auseinanderzusetzen.
kulturtipp: Sie lesen ab und zu auch Feedbacks von Hörerinnen vor, das zeigt: Ihr Podcast bewegt die Menschen. Spüren Sie da auch eine gewisse Verantwortung?
Philipp Fleiter: Absolut. Ich habe schon Feedbacks von Missbrauchsopfern oder Menschen mit psychischen Krankheiten bekommen. Die schrieben mir, sie hätten den Mut gefunden, sich Hilfe zu suchen, weil ich in meinem Podcast immer wieder dazu aufrief. Es kamen auch schon Angehörige von Opfern einer Gewalttat auf mich zu, weil sie wollten, dass ich mich dem betreffenden Fall annehme. Ich empfinde es als grosse Ehre, dass mir dieses Vertrauen entgegengebracht wird.
kulturtipp: Das Medium Podcast steht für unsere mobile und individuelle Zeit. Worin liegt der Reiz, «Verbrechen von nebenan» auf die Bühne zu bringen?
Philipp Fleiter: Ich muss mein Format auf der Bühne ganz anders aufziehen als im Podcast. Ich muss das Publikum miteinbinden. Ich stelle zum Beispiel Fragen an die Zuschauer und lasse sie über einen der zwei Fälle der Show entscheiden. Die Bühnen-Version ist auch etwas witziger als eine normale Podcast-Folge. Ich bringe schon spannende Kriminalfälle, in denen es auch gruselige Szenen gibt. Aber die Menschen sollen an so einem Abend vor allem unterhalten werden. Ich will nicht, dass sie nach der Show rausgehen und sagen: Die Welt ist ein schlechter Ort, ich schliess mich jetzt im Schlafzimmer ein.
Philipp Fleiter – Verbrechen von nebenan live
Sa, 12.11., 20.00 Stadtcasino Basel
Frühzeitige Reservation empfohlen
Spektakuläre Kriminalfälle
Seit 2019 betreibt der deutsche Radiomoderator, Journalist und Autor Philipp Fleiter den Podcast «Verbrechen von nebenan». In weit über 80 Folgen hat er spektakuläre Kriminalfälle aufgerollt, etwa jenen des Kaufhauserpressers Dagobert oder jenen der Betrügerin Anna Delvey. Mittlerweile gehört «Verbrechen von nebenan» zu den erfolgreichsten Podcasts im deutschsprachigen Raum.
Verbrechen von nebenan
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