Play Gantenbein! In der Rolle Gantenbeins
Beim interaktiven Theaterspaziergang «Play Gantenbein!» wird der Zuschauer zum Hauptakteur seines eigenen Theaterstücks und nimmt eine neue Identität an. Ein Selbstversuch in St. Gallen.
Inhalt
Kulturtipp 04/2011
Letzte Aktualisierung:
05.03.2013
Babina Cathomen
«Ich stelle mir vor …»: So beginnt der Ich-Erzähler in Max Frischs Roman «Mein Name sei Gantenbein» jeweils seine Gedankenspiele, in denen er sich verschiedene Lebensvarianten entwirft. Eine mögliche Identität, die er sich zurechtlegt, ist die Figur Gantenbein. Nach einem Unfall gibt dieser vor, blind zu sein, und erfindet sich so ein neues Ich.
Dies macht nun auch der Teilnehmer des rund 75-minütigen Audiowalks, der von Marcus S...
«Ich stelle mir vor …»: So beginnt der Ich-Erzähler in Max Frischs Roman «Mein Name sei Gantenbein» jeweils seine Gedankenspiele, in denen er sich verschiedene Lebensvarianten entwirft. Eine mögliche Identität, die er sich zurechtlegt, ist die Figur Gantenbein. Nach einem Unfall gibt dieser vor, blind zu sein, und erfindet sich so ein neues Ich.
Dies macht nun auch der Teilnehmer des rund 75-minütigen Audiowalks, der von Marcus Schäfer, Karin Bucher und Jens Lampater konzipiert wurde. Das Abtauchen in Gantenbeins Welt beginnt harmlos an der Theaterkasse in St. Gallen. Mit einem MP3-Player ausgerüstet, lässt man sich auf Diana Denglers Stimme ein, die einen mit genauen Anleitungen sicher durch die Stadt führt. An passenden Orten ist Marcus Schäfer als Gantenbein zu hören, untermalt mit Musik- und Geräuschkulisse von Frank Sattler.
Eine neue Identität
Ein erster Halt wird im Optikergeschäft gemacht. Hier rüstet sich der Audiowalker mit einer Blindenbrille aus. Wieder draussen, erscheint die Welt im aschgrauen Licht. Nun noch den Blindenstock montiert – und der Teilnehmer kann sich gänzlich in Gantenbeins Rolle versetzen, der sich anfangs vorkommt wie ein Schwindler.
Ich stelle mir vor … ich sei Gantenbein. Im Takt seiner Schritte mache ich mich auf einen Spaziergang. Verstohlene Blicke oder direktes Anstarren ignorierend, halte ich mich in der Rolle der Blinden und lausche gleichzeitig der Stimme im Ohr. Diese berichtet von Gantenbeins Erfahrungen, die sich nun mit den eigenen decken. «Eine Weile bleibt Gantenbein stehen; er muss lockerer werden, bevor er weitergeht mit dem klöppelnden Stock am Randstein», heisst es über seine erste Blindentour. Sobald sich die nötige Lockerheit einstellt, kann ich mich den Fragen zu Selbstbild und Aussenwirkung stellen: Welche Rolle spiele ich selbst im Leben? Welche anderen Rollen würden mir behagen? Wie nehmen mich die anderen wahr? Wie fühlt es sich an, aus dem Korsett der eigenen Biografie auszubrechen?
Vom öffentlichen Raum führt der Weg in die Privatsphäre, in die Wohnung von Gantenbein und seiner Geliebten Lila: Polster, abgedeckt mit weissen Tüchern, ein Schachspiel auf dem Tisch, schmutziges Geschirr, ein tropfender Wasserhahn – dieselbe Szenerie wie im Roman. Zuerst stellt sich das befangene Gefühl ein, in die Intimsphäre eines Fremden eingedrungen zu sein. Doch die Stimme im Ohr ermuntert zum Öffnen der Schränke, zum Stöbern in der Wohnung und erzählt dazu Episoden aus Gantenbeins Leben. Das Telefon klingelt …
Der Reiz des Fremden
«Die Besucher sollen Frischs Roman auf eine spezielle Art erleben», erklärt Marcus Schäfer nach dem Rundgang. «Mit dieser Form kommen wir den Leuten nahe und lösen vielleicht eine Bewusstwerdung der eigenen Rolle aus», sagt er und betont: «Jeder kann natürlich selbst entscheiden, wie weit er gehen will. Aber oft übt das Befremdliche auch einen gewissen Reiz aus.»
Bald wird «Play Gantenbein!» auch in Schaffhausen und Winterthur zu erleben sein. Die Grundstationen bleiben, aber die Episoden werden neu zusammengeschnitten und auf den jeweiligen Ort angepasst. Und wieder wird die Stadt zur ganz persönlichen Bühne.