Vor dem Vergessen sind auch Jahrhundertgestalten nicht gefeit. In den letzten Wochen wurde klar: Viele unter 30-Jährige hatten Pierre Boulez nicht nur vergessen, sondern gar nie wahrgenommen. Wer nur etwas älter ist, ist dem Musik-Riesen irgendwann im Leben begegnet. In welcher Gestalt, das weiss man bisweilen selbst nicht mehr so genau.
Gegen die Tradition
Der 1925 geborene Pierre Boulez klopfte mit 19 Jahren an die Tür der damaligen Lichtgestalt Olivier Messiaen (1908–1992). Dieser habe in sein Tagebuch über Boulez die Untertreibung des Jahrhunderts geschrieben: «Mag mod. Musik.» Das schreibt Autor Alex Ross in seinem Buch über Neue Musik.
Boulez wurde schnell zur Ikone, sowohl in Paris wie in Darmstadt, im Zentrum der Neuen Musik – auch durch ausgeprägte Rücksichtslosigkeit und die Kunst, Autoritäten zu vernichten. Dazu gehörten erst Sibelius, Strauss und Ravel, bald Schönberg und John Cage.
Doch ein Schönberg musste erst mal «ersetzt» werden. Der Revolutionär Boulez schaffte das. Die Aufmerksamkeit war ihm schnell gewiss – nicht nur in den schmalen Reihen der Spezialisten. Seine Musik schlug atonal gegen die Tradition, im wahrsten Sinn des Wortes. Doch kluge Interpreten brachten ihre Zwischentöne zum Singen und Leuchten, sodass alle theoretischen Überlegungen, die hinter den Werken standen, sich in klingende Luft auflösten. Der US-amerikanische Komponist Morton Feldman bezeichnete Boulez’ Musik als «hyperaktiven Chic».
In Luzern gefeiert
Trotz allen Ruhms von damals: Wer sich heute fragt, welche Werke ein heute 30-Jähriger von Boulez kennen müsste, kommt auf kaum mehr als eine Handvoll: Die Notations für Klavier (1945) und ihre Orchesterbearbeitung (1978), die 2. Klaviersonate (1947), «Le marteau sans Maître» (1952–1955), «Pli selon pli» und «Répons» (1957–1962). Es sind die frühen Werke, bei allem elektronischen Zauber der späteren Jahre. Irgendwann überarbeitete Boulez nur noch das Alte. Dem Legendenstatus tat es erstaunlicherweise keinen Abbruch.
Am Lucerne Festival wurde Boulez in den letzten 15 Jahren immer wieder gefeiert – zuletzt am Boulez-Tag im August 2015. 2002 war er Composer in Residence, alsbald leitete er die Academy, wo sich junge Komponisten und Orchestermusiker intensiv mit der zeitgenössischen Musik und den Klassikern der Moderne auseinandersetzten. Ein lebender Klassiker war Boulez selbst. Bald war der Dirigent allerdings berühmter als der Komponist geworden.
Boulez’ Nüchternheit in der Gestik wurde von den damals jungen Kritikern als Kühnheit angesehen. Sie war die Antwort auf Taktstock-Balletteusen. Boulez bewegte durch Zurückhaltung – und eine ungeheuerliche Partiturkenntnis.
Unvergessen der Auftritt des Lucerne Festival Orchestra (LFO) im Oktober 2007 in der New Yorker Carnegie Hall. Keiner wollte das «Orchester der Freunde» anstelle des erkrankten Claudio Abbado dirigieren. Alan Gilbert war am Vorabend denn auch am LFO gescheitert. Boulez hingegen lag das eigensinnige Festspielorchester zu Füssen, es spielte so traumhaft, dass dem Dirigenten im letzten Satz die Tränen kamen. Nach einer schlaflosen Nacht sass ihm der Schreibende damals beim Hotel-Frühstück nervös gegenüber. Doch Boulez’ Charme war hinreissend, er bat höflich um die Marmelade. Und auf die Frage, was er dem Orchester als Erstes gesagt habe, antwortete er: «Ich hoffe, dass ich Sie nicht zu sehr störe.»
Das war der streitbare Feuerkopf von einst? Lucerne-Festival-Intendant Michael Haefliger erzählte später dem «Tages-Anzeiger», dass es wie beim Papst sei: «Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass Boulez etwas tut, was man nicht tun sollte. Andere Dirigenten lassen sich chauffieren, Boulez kam immer mit dem Bus. Und zum Essen ging er ins Bistro im KKL.»
Ein Asteroid
Boulez war eben viel mehr als ein Musiker: eine intellektuelle Lichtgestalt, ein Kulturinitiator. Dazu brauchte es die Kunst, sich bescheiden zu inszenieren. Ein «Spiegel»-Interview, in dem er 1967 die Sprengung aller Opernhäuser forderte, wurde legendär – fast gleichzeitig wurde er aber ein Aushängeschild der Bayreuther Festspiele. Auf jeden, der sich neben ihn stellte, fiel etwas von seinem Glanz. Letztes Jahr wurde gar ein Asteroid nach Pierre Boulez benannt. Als solcher sollte er unvergessen bleiben.
Boulez-Hommage mit Simon Rattle
Das Lucerne Festival wird Pierre Boulez in seiner Sommerausgabe feiern. Heute schon bekannt ist das Konzert vom Di, 30.8., 19.30 im KKL. Die Berliner Philharmoniker unter Sir Simon Rattle werden Werke von Boulez und Mahler spielen.
Pierre Boulez Konzert
In Erinnerung an Pierre Boulez, der am 5. Januar verstorben ist, veranstaltet Lucerne Festival am 20. März um 14.00 Uhr ein Gedenkkonzert. Das Konzert findet im Rahmen des Oster-Festivals statt (12. bis 20. März), das Programm gestaltet ein Alumni-Orchester der Lucerne Festival Academy: Die jungen Musiker, die in den Jahren zwischen 2004 und 2015 an der von Pierre Boulez und Michael Haefliger gegründeten Akademie in Luzern teilgenommen haben, reisen speziell für dieses Konzert aus Europa, Asien, USA und Südamerika an. Dirigent ist der Principal Conductor der Akademie, Matthias Pintscher.
Pierre Boulez auf CDs
Complete Columbia Album Collection
(67 CDs, Sony 2014).
Œuvres Completes – Complete Works
(13 CDs, DG 2013).
Boulez und Mahler: Sämtliche
Deutsche-Grammophon-Aufnahmen (14 CDs, DG 2013).