Dem Zufall ist nur wenig überlassen. Was gespielt wird, wurde vorgeschrieben. Improvisieren ist nicht vorgesehen, fantasiert hat der Komponist – und dann notiert. Hier steht es aufgeschrieben. Doch wie gespielt wird, liegt im Ermessen dessen, der am Klavier sitzt. Es ist seine Entscheidung, welche Tempi und Dynamik er wählt, wo er verzögert und wo beschleunigt. Genau das erwarten wir von ihm: Dass er sich in den Leerstellen – dem Ungewissen, in dem jeder Text schwebt – für die Eingebung entscheidet, seine Eingebung. Deshalb genügen uns ein Interpret und eine Interpretation nur selten; wir wollen auch neu hören, was wir zu kennen glauben.
Stets die gleiche Vorlage
Interpretationen eines Stücks sind einander ähnlich, weil ihre Quelle stets die gleiche Vorlage ist; doch niemals sind sie gleich. Gleich ist nur, was konserviert ist und beliebig oft wiedergegeben werden kann. Aber nicht einmal darauf kann man sich verlassen, denn im gleichen Mass, wie sich im Lauf der Zeit unsere Hörgewohnheiten – nicht zuletzt aufgrund anderer Interpretationen – wandeln, verändern sich unsere Anforderungen an ein Stück. Was uns lange die einzig wahre Lösung schien, kann an Überzeugungskraft sowohl gewinnen als auch verlieren.
Die Interpretation eines Werks erfolgt aufgrund eines Textes, an dem keine Note verändert werden darf. Doch die Zeit, in der es gespielt wird, ist weniger stabil, sie ist unbeständig und wandelbar wie der Mensch, der sich darin bewegt. Dass seine Auffassung eines Werks über die Jahre hinweg dieselbe bleibt, ist mehr als unwahrscheinlich, sie widerspräche der Vorstellung eines agierenden, pulsierenden Individuums, das auch ausserhalb der Ausübung seines Berufs Erfahrungen sammelt.
In seiner Zeit
Auch als Interpret lebt der Musiker in seiner Zeit, zugleich aber auch nach Massgabe seiner Persönlichkeit, nach seinem Willen und seinen intuitiven oder auf Studien beruhenden Vorstellungen des richtigen Takts, des wahren Ausdrucks, wohl wissend, dass es mit der unumstösslichen, für alle Zeiten geltenden «Richtigkeit», «Authentizität» oder gar «Wahrheit» kaum weiter her ist als vom Kopf bis zu den Fingern, die den Ton angeben. Jede Interpretation bewegt sich in einer Spanne Zeit. Jede Erinnerung an eine frühere Interpretation, und sei sie noch so vage, ist in die aktuelle eingewoben. Löblich, wer Zeitlosigkeit anstrebt, aber bei Licht betrachtet ist sie eine Chimäre und so wenig fassbar wie der Unterschied zwischen geistiger Jugend und geistigem Alter.
Vermutlich über kein Lebensalter gibt es so viele mehr oder weniger originelle «Weisheiten» wie über das Alter. Zugleich kein Lebensabschnitt, über den so Widersprüchliches gesagt wurde, nicht selten übrigens von ein und derselben Person; Goethe stünde da nicht an letzter Stelle. Von «Das Neue klingt, das Alte plappert» über «Das Alter hört sich gern, auch wenn es nicht viel zu sagen hat» bis «Der Rost macht erst die Münze wert» hat der Dichter so manches verlauten lassen, was einiges für sich hat, ohne näherer, empirischer Betrachtung standhalten zu müssen; vielleicht deshalb, weil jeder Lebensabschnitt das Alter neu betrachtet und gewichtet, mal zum Vorteil, mal zum Nachteil des jeweils anderen?
Spielerisches Element
Ein langer, oft wechselvoller, mal steiniger, mal ebener, mal abfallender, mal steil aufsteigender Weg liegt zwischen dem Dasein eines jungen Talents und dem Zustand, ein alter Mann (horribile dictu) am Klavier zu sein, auch wenn ihm selber der Weg nur wie ein Katzensprung erscheinen will. Denn das, was er schon immer tat, tut er ja immer noch. Das, was er spielt, hat er vor langer Zeit bereits gespielt – und tut es immer noch. Das spielerische Element wird bei der Aussenansicht oft vergessen. Wer eine Beethovensonate oder Chopin-Etüde zum x-ten Mal spielt, hat nicht nur Ähnlichkeit mit jenen, die sie schrieben, sondern mehr noch mit jener seltsamen Gestalt, die Tag für Tag von neuem, ein Leben lang, Kartenhäuser baut. Keines ist wie das andere, manche fallen sogleich oder auf halber Strecke in sich zusammen, während andere sich himmelhoch türmen und immer weiter gebaut werden könnten, wenn die Arme nur ausreichten. Es ist ein ernstes Spiel, dessen Sinn niemand so richtig kennt, das sich seit dem Tag, an dem der Pianist sein erstes Konzert gab, nicht geändert hat. Aber es leuchtet ein.
Piano Legends – Aufführungen
Fr, 18.9., 19.30 Druckerei Baden AG
Stephen Kovacevich spielt Berg und Schubert
Sa, 19.9., 19.30 Druckerei Baden AG
Gérard Wyss spielt Händel, Schubert, Brahms, Ravel
Sa, 26.9., 19.30 Margeläcker Wettingen AG
Paul Badura-Skoda spielt Bach, Mozart, Beethoven
So, 27.9., 17.00 Margeläcker Wettingen AG
Philippe Entremont spielt Debussy, Ravel, Chopin
Weitere Infos unter
www.pianolegends.ch