Philip Roth Virus in Körper und Seele
Emotionale Tortur für den Leser? Oder rührende Schicksalsgeschichte, die an Kitsch grenzt? Der neue Roman «Nemesis» von Philip Roth polarisiert.
Inhalt
Kulturtipp 05/2011
Rolf Hürzeler
Die Geschichte aus dem Jahr 1944 ist schnell erzählt: Der jüdische Sportlehrer Bucky erlebt in der amerikanischen Provinzstadt Newark, wie eine Kinderlähmungs-Epidemie ausbricht. Einen Schutz gegen die Krankheit gab es damals nicht. Seine Jungs sterben – einer nach dem anderen. Thematisch erinnert der Roman an den Klassiker «Die Pest» von Albert Camus.
Protagonist Bucky folgt der Einladung seiner Freundin in ein Sommercamp mit dem schlechten Gewissen eine...
Die Geschichte aus dem Jahr 1944 ist schnell erzählt: Der jüdische Sportlehrer Bucky erlebt in der amerikanischen Provinzstadt Newark, wie eine Kinderlähmungs-Epidemie ausbricht. Einen Schutz gegen die Krankheit gab es damals nicht. Seine Jungs sterben – einer nach dem anderen. Thematisch erinnert der Roman an den Klassiker «Die Pest» von Albert Camus.
Protagonist Bucky folgt der Einladung seiner Freundin in ein Sommercamp mit dem schlechten Gewissen eines Deserteurs. Als auch dort die ansteckende Krankheit ausbricht, ist Bucky dem Schicksal nicht mehr gewachsen. Er ist sich sicher, die Kinderlähmung selbst zu verbreiten und am Tod der Jugendlichen schuld zu sein: «Er war zu verwirrt von der Grösse dessen, was geschah. Der Grösse dessen, was bereits geschehen war. Der Grösse dessen, was er getan hatte», schreibt Roth über Buckys Gemütslage. Bucky ist der klassische tragische Held: Er will nur das Beste für die Welt und bezieht alles Elend auf sich selbst.
Der 31. Roman des 77-jährigen amerikanischen Schriftstellers Philip Roth packt den Leser so sehr, dass die Lektüre streckenweise schmerzt. Immer wieder muss man innehalten, das Buch kurz zuklappen, Atem holen. Zumal man als Leser all das genau weiss, was die Romanfiguren nur zu ahnen scheinen, und was Roth nur antönt: Dass nämlich in jener Zeit auf der andern Seite des Atlantiks die wirkliche Hölle los war, besonders für die Juden. Doch Weltkrieg hin oder her: Das vom Zeitgeschehen verschonte Newark kann für die Bevölkerung genauso gefährlich sein wie das kriegsgeplagte Europa. Der frühzeitige Tod lauert überall.
Je heftigere Emotionen in einem Roman, desto intensiver die Debatte der Kritik darüber, wie «Nemesis» exemplarisch belegt. «Die Struktur dieses Romans ist elegant», schwärmt die «New York Times», und lobt «Nemesis» als eines der besten Bücher Roths. Genau das Gegenteil behauptet die «Washington Post»: «Er ist unfähig, über die Leben zu schreiben, ein tiefes erlebbares Empfinden für eine andere Person zu vermitteln.» Mit andern Worten: Man soll beim Lesen dieses Buches seinen Emotionen misstrauen. Und geradezu erschlagen zeigt sich der Kritiker des «Daily Telegraph»: «Diese Intensität von Elend erlebt der Leser als stumpfe Gewalt.»
[Buch]
Philip Roth
Nemesis
224 Seiten
(Hanser 2011).
[/Buch]