Auf der Probebühne im Theater Basel wuseln kurz vor Probenbeginn die Leute durcheinander. Die Kostümfrau hängt ein paar neu genähte Hemden an einen Ständer; eine Sängerin schlingt einen Schal um ihre Hüfte und setzt sich einen Cowboyhut auf. Ein paar Tänzer dehnen ihre Glieder auf dem Boden, andere tippen schnell eine Kurznachricht in ihre Handys oder unterhalten sich mit einer Kollegin. Die Stimmung ist locker-konzentriert.
«Satyagraha» – ein selten aufgeführtes Werk
Auf der Bühne hat sich der amerikanisch-deutsche Dirigent Jonathan Stockhammer in Position gebracht. Rechts von ihm beugt sich der Regisseur, der renommierte belgische Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui, über seine Notizen. Geprobt wird die selten aufgeführte Oper «Satyagraha» des US-amerikanischen Komponisten Philip Glass als Koproduktion des Theaters Basel mit der Komischen Oper Berlin und der Vlaamse Opera Antwerpen.
Der Lärm ist abgeebbt, die Studienleiterin am Flügel setzt zu den ersten Akkorden an. Stetig und gleichmässig fliessen die Töne, perlen dahin und wiederholen sich endlos, bis an einem bestimmten Punkt die Tonfolgen eine unmerkliche Variation erfahren. Die Minimal Music von Glass ist ein hypnotischer Sog, in den man mehr und mehr hineingezogen wird.
Sänger und Tänzer in Bewegung
Auf der Bühne, zwischen senkrecht gespannten Seilen, stehen zwei Sängerinnen und zwei Sänger um einen mit einer Flaschenkiste und einer Platte improvisierten Tisch. Die Tänzerinnen und Tänzer von Eastman, der in Antwerpen beheimateten Company von Cherkaoui, konstruieren mit dünnen, langen Brettern Wände und ein Dach über den Singenden. Anstelle eines Taktstockes bewegt der Dirigent einen Bleistift auf und ab, singt auch mal den Part eines Sängers mit, dessen Stimme gerade indisponiert ist.
Da unterbricht der Regisseur die Szene. In seinem rot-weiss karierten Hemd und seinen hohen Turnschuhen über den Jeans erklärt er in freundlichem Ton, was er anders möchte. Die Tischplatte soll sich drehen, gleichzeitig müssen die Solisten ihre Plätze wechseln: «It moves, but you move with it.»
Der Tänzer und Choreograf Cherkaoui arbeitet auf Augenhöhe mit allen Beteiligten. Vor allem bringt er die Sänger ins tänzerische Geschehen ein. In einer späteren Szene bewegen sich die Sängerinnen synchron mit den Tanzprofis; ihr Part ist – man staunt – keine Version «light». Dazu singen sie gleichzeitig in Sanskrit, der altindischen Hochsprache.
Komponist Glass hat sich immer wieder in Indien aufgehalten und die indische Musik studiert. Dort sah er einen Dokumentarfilm über Mahatma Gandhi und war beeindruckt von dessen humaner Radikalität und Philosophie der Gewaltlosigkeit.
«Satyagraha» bedeutet «Kraft der Wahrheit» und wurde als Begriff und Bewegung von Gandhi entwickelt, als er von 1893 bis 1914 in Südafrika lebte und sich dort für die Gleichberechtigung der indischstämmigen Bevölkerung starkmachte. Glass’ Oper «Satyagraha», 1980 komponiert, spielt zur Zeit Gandhis in Südafrika. Die Texte hat er dem hinduistischen Epos «Bhagavad Gita» entnommen.
Interview mit Jonathan Stockhammer
«Diese Spannung, das ist höchste Kunst»
Jonathan Stockhammer ist der musikalische Leiter der Basler Inszenierung von «Satyagraha». Der US-amerikanisch-deutsche Dirigent spricht über die Oper von Philip Glass, deren repetitive Musik ein «Highgefühl» auslösen kann.
kulturtipp: Jedem Akt der Oper «Satyagraha» ist ein «geistiger Verwandter» Ma-hatma Gandhis zugeordnet: Der Schriftsteller Leo Tolstoi, der bengalische Philosoph Rabindranath Tagore und der US-Bürgerrechtler Martin Luther King. Welche Rolle haben Sie inne?
Jonathan Stockhammer: Die Figuren haben eine symbolische Bedeutung, alle suchten, wie Gandhi, nach Wahrhaftigkeit. In dieser Oper geht es in einem universellen Sinn um die Suche nach Gerechtigkeit. Die Texte der Sänger stammen aus der Hindu-Schrift Bhagavad Gita und haben im Grunde keinen direkten Bezug zur hier erzählten Geschichte. Wobei man sagen muss, dass es keine lineare Handlung gibt. Das ermöglicht uns eine grosse interpretatorische Offenheit. Manchmal aber kommen die gesungenen Texte dem Operngeschehen sehr nahe. Beispielsweise am Anfang des zweiten Aktes, als Gandhi zum zweiten Mal nach Südafrika kommt und ihn ein gewalttätiger Mob am Hafen erwartet. Der Chor singt selbstzufrieden von Reichtum und Vergnügen, die er sich von keinem nehmen lassen will. Die Frau des Polizeichefs nimmt Gandhi in Schutz gegen den Mob; sie kritisiert dessen unmoralische Gedanken. Frei übersetzt singt sie: «All das wird schlimme Folgen haben.» In unseren Gesprächen haben wir gemerkt, wie stark diese Texte wirken. In Zeiten der «alternativen Fakten» bekommt die Frage nach Wahrheit eine zusätzliche Dringlichkeit.
Philip Glass hat sich lange mit indischer Musik auseinandergesetzt und wurde vom indischen Musiker Ravi Shankar mitgeprägt. Inwieweit ist dieses andere kulturelle Wissen in die Oper «Satyagraha» eingeflossen?Weder sind indische Harmonien zu hören, noch ist die Oper in irgendeiner Weise indisch angehaucht. Aber wie Glass die Phrasen entwickelt, in langen Kettenphrasen und in der Art der Betonung, da sehe ich einen Einfluss. Darum ist diese Musik so berührend; sie erinnert in den Wiederholungen an Meditationsformen, an Mantras. Glass arbeitete mit indischen Musikern zusammen; dabei wurde nie etwas notiert, alles passierte mündlich. Damit westliche Musiker mitspielen konnten, musste Glass eine spezielle Notationsform finden, eine, die auch in den Ohren der indischen Musiker stimmte. In «Satyagraha» hat er übrigens diese Notation oft angewendet.
Sie haben schon mehrfach Werke von Philip Glass dirigiert. Wie sehen sie dessen Musik?
Ich muss gestehen, dass ich meine Zeit brauchte, um in diese Welt einzutauchen. John Adams oder Steve Reich, Komponisten im Umfeld von Philip Glass, standen mir näher. Heute ist das anders. «Satyagraha» hat mich von Anfang an begeistert, lange bevor ich die Handlung kannte. Ein Beispiel: Am Anfang der Oper braucht Glass während 20 Minuten nur vier Akkorde. Aber wie er das macht, diese Spannung, das ist höchste Kunst.
Wie schwierig ist es, die repetitive Musik von Glass zu dirigieren?
Es ist sehr anspruchsvoll. Und für das Orchester ebenfalls. Ich denke an die Bläser, die über 30 Minuten kaum atmen können. Für mich ist das Durchzählen die grösste Herausforderung. Es gibt eine Art Highgefühl, wenn man etwas 300 Mal wiederholt. Das gilt auch für die Musikerinnen und Musiker. Ich muss als Dirigent sehr präsent bleiben. Die Musik darf nicht automatisch wirken. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass verschiedene Notierungsweisen in der Partitur existieren. Aber das ist, wie ich es nenne, Küchenarbeit: Wir müssen die Schwierigkeiten in der Küche bewältigen, ohne dass die Leute das im Speisesaal bemerken.