In Peter Stamms Roman wähnt man sich zuweilen in einem Spiegellabyrinth. Der Winterthurer Autor betreibt ein raffiniertes Spiel mit verschiedenen Wirklichkeitsebenen, indem er seinen Protagonisten auf sein jüngeres Ich treffen lässt. Die Verwirrung nimmt ihren Lauf, als der Schriftsteller Christoph auf einer Lese-Reise im Hotelportier in seinem Heimatdorf sich selbst erkennt. Wochen später begegnet er seinem Alter Ego im Vorlesungssaal wieder. Während Christophs Doppelgänger keine Notiz von ihm nimmt, wirft die Begegnung den Ich-Erzähler aus der Bahn. «… was auch immer ich tat oder schrieb, es war mir, als stehe einer hinter mir und äffe mich nach. Mein ganzes Leben kam mir lächerlich und falsch vor.»
Eine verschachtelte Geschichte
Diese Geschichte erzählt der Ich-Erzähler der jungen Schauspielerin Lena: Er hat mit ihr ein Treffen in Stockholm vereinbart, wo er selbst als junger Schriftsteller an einem Workshop teilgenommen und sich von seiner Freundin getrennt hatte. In Lena erkennt er seine frühere Freundin Magdalena wieder. Lena wimmelt den Fremden nicht gleich ab, sondern lässt ihn seine mysteriöse Geschichte schildern. Nachdem Christoph aber von intimen Details aus ihrem Leben und dem ihres Freundes Chris berichtet, wird es Lena zu bunt: «Sie haben Ihr Leben und ich habe meines. Und ich habe absolut nicht die Absicht, mir meines von Ihnen erzählen zu lassen.»
Es ist eine verschachtelte Geschichte, die Peter Stamm hier erzählt. Der Autor hat die verschiedenen Erzählstränge und Zeitebenen aber fest im Griff und trotzt der komplexen Struktur mit seiner klaren, reduzierten Sprache. In seinem Roman wirft er wie in früheren Werken Identitätsfragen auf: Wie verändern sich unsere Erinnerungen im Lauf der Zeit? Stehen uns alle Möglichkeiten offen, oder werden wir von einem unabwendbaren Schicksal gesteuert? Was wäre, wenn wir an einer Weggabelung des Lebens anders abgebogen wären? Dazu kommt die Frage, die Stamm bereits in seinem Debütroman «Agnes» meisterhaft durchgespielt hat: In welcher Beziehung steht ein fiktiver Text zur Realität? «Ein literarischer Text braucht eine Form, eine Folgerichtigkeit, die unser Leben nicht hat, Glück macht keine guten Geschichten», sagt der junge Ich-Erzähler etwa zu Magdalena, als sie ihn bittet, die Geschichte ihrer gemeinsamen Liebe aufzuschreiben.
Die Kunst des Schreibens
Schliesslich handelt das Buch auch von den Erfahrungen eines Schriftstellers: «Es geht beim Schreiben nicht um das Machen, sondern um das Finden. Was man finden wird, kann man im Voraus nie wissen», sagt sein Ich-Erzähler. Dieses Spiel mit den Möglichkeiten fasziniert auch Peter Stamm immer wieder, wie er in Interviews darlegte. Aus dieser Unsicherheit lässt er seine kraftvolle Prosa entstehen.
Lesungen
Di, 6.3., 19.30 Buchhandlung ZAP* Brig VS
Mi, 7.3., 20.00 Buchhandlung Stauffacher Bern
Do, 8.3., 19.15 Aargauer Literaturhaus Lenzburg
Fr, 9.3., 20.00 Rathaussaal Weinfelden TG
Buch
Peter Stamm
Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt
160 Seiten
(S. Fischer 2018)