Einfach ausbrechen, alles hinter sich lassen: Diesen geheimen Wunsch erfüllt sich der Treuhänder Thomas in Peter Stamms Roman. «Mit einem erstaunten Lächeln» spaziert er eines Abends ohne eigentlichen Anlass aus dem Garten, wo er soeben noch mit seiner Frau Astrid ein Glas Wein auf der Veranda getrunken hatte. Er läuft los, ohne zurückzublicken, ohne an Astrid und seine zwei Kinder zu denken. Er läuft und läuft – tagelang, monatelang, jahrelang. Anfangs stiehlt er sich noch wie ein Verbrecher durch Gebüsche und Wälder, damit er nicht entdeckt wird. Später muss er sich nicht mehr verstecken und übernimmt gegen Entgelt kleine Arbeiten, ohne aber tiefere zwischenmenschliche Kontakte zu knüpfen – immer auf dem Sprung zum nächsten Ort.
Radikale Konsequenz
Peter Stamm, der sich zu Recherchezwecken selbst eine Zeit lang auf unbestimmte Wanderschaft begeben hat, betreibt in seinem neuen Roman ein Spiel mit Möglichkeiten. Sein Protagonist erinnert zuweilen an Max Frischs «Stiller» und dessen Frage nach der Identität des Menschen. Er treibt den blossen Flucht-Gedanken, der wohl vielen Menschen nicht fremd ist, bis zum Äussersten. Seine Hauptfigur, ein «Durchschnittsmensch» mit einem friedlichen Familienleben, zieht eine radikale Konsequenz: Er will nicht mehr mitmachen in seinem eigenen Leben, in dem alles eingespielt, alles vorbestimmt ist. «Die immer gleichen Sätze, und darauf die immer gleichen Antworten», denkt er über sein ehemaliges Zuhause. «Auch er war Teil dieses stillen Übereinkommens gewesen, hatte funktioniert, wie es von ihm erwartet worden war, ohne dass dies jemals ausgesprochen worden wäre», heisst es an anderer Stelle.
Ohne Gewissensbisse
Stamm beschreibt diese Flucht, ohne zu psychologisieren. Im Vordergrund stehen Thomas’ Landschaftseindrücke, die Suche nach einem trockenen Übernachtungsplatz, nach Proviant oder einem guten Versteck. An die zurückgelassene Familie verschwendet der Wanderer wenige Gedanken, zuweilen erinnert er sich an sie mit einem «diffusen Gefühl der Verbundenheit, das ihn wärmte». Gewissensbisse plagen ihn nie. Diese nüchterne Sichtweise, die Stamm konsequent durchzieht, wirkt zuweilen irritierend, zumal auch die Beweggründe für den radikalen Schritt weitgehend offenbleiben.
Die emotionalere Sicht nimmt die verlassene Gattin ein. Allerdings bleibt die Gefühlslage auch bei ihr diffus: Lähmende Angst, die Scham, das Verlassenheitsgefühl, die Trauer und das Mitleid mit ihren Kindern wechseln sich ab. Wut über ihren untreuen Mann hingegen verspürt sie fast nie. Sie zeigt sogar ein gewisses Verständnis: «Er war einfach weggegangen. Das Bedürfnis war ihr ja selbst nicht fremd», konstatiert sie trocken. Sie verbleibt in einer abwartenden, manchmal unbegreiflich passiven Rolle – und das 20 Jahre lang.
Über all die Zeit bleiben die beiden einander gedanklich und emotional verbunden. Sie stellen sich Geschichten voneinander vor, die in späteren Szenen tatsächlich so eintreffen. Vorstellung und Wirklichkeit verschwimmen zuweilen bis zur Unkenntlichkeit, aus dem Konjunktiv im Roman wird plötzlich ein Präsens. Beide übermannt manchmal das Gefühl des Unwirklichen ihrer Situation – das Gefühl, sich in einer Theater- oder Filminszenierung zu befinden, die mit dem eigenen Leben nichts zu tun hat.
Grundthema bleibt
Der Neubeginn, das Verlassen von eingefahrenen Wegen und die Sehnsucht nach einem anderen, besseren Lebensentwurf gehören zu Stamms Grundthemen. Etwa im Roman «An einem Tag wie diesem» (2006), in dem ein Mann alles hinter sich lässt und sich auf die Suche nach seiner alten Liebe macht. Oder im Roman «Nacht ist der Tag» (2013) über eine Frau, die nach einem Unfall ihr Leben mit zerstörtem Gesicht neu beginnen muss.
Im neuen Roman würde man sich nach der spannungsgeladenen Ausgangslage statt der langen Wander- und Naturbeschreibungen etwas mehr Hintergrund wünschen. Gleichzeitig lässt Stamm mit seiner nüchternen Erzählweise und reduzierten Sprache aber Platz für eigene Gedankenräume.
Buch
Peter Stamm
«Weit über das Land»
224 Seiten
(S. Fischer 2016).
Buchpremiere
Mi, 2.3., 19.30 Literaturhaus Zürich
Moderation: Eva Wannenmacher
Radio
So, 21.2., 14.06 Radio SRF 1
Peter Stamms Roman in der Sendung «Buchzeichen»
Zum Nachschauen
«Kulturplatz» vom Mi, 13.1., zum Thema «Was wäre, wenn», u.a. mit Peter Stamm
http://www.srf.ch/sendungen/kulturplatz/was-waere-wenn