Nachdem ich mit 19 Jahren meinen ersten Langspielfilm fertiggestellt hatte, der mich mein ganzes Geld und die ersten grauen Haare gekostet und beinahe zu einer Verhaftung geführt hat, durfte ich ihn endlich sieben Kollegen zeigen. Zwei davon sind eingeschlafen. Wahrscheinlich die, die nicht mitgeholfen hatten. So habe ich gelernt, dass, wenn ich wirklich Regisseur werden wollte, meine Filme unterhaltender werden müssten. Und auch, dass ich wahrscheinlich eine Filmschule besuchen sollte.
Die Filmschule habe ich schliesslich in den USA abgeschlossen. Dort ist der Zuschauer König. «Du sollst nicht langweilen», ist das oberste Gebot. Das ist verständlich, denn dort werden ausschliesslich Filme hergestellt, die von einem Studio oder von Investoren finanziert werden. Und die erwarten ihr Geld zurück. In Europa ist das etwas anders. Die meisten Filme werden ganz oder zum grössten Teil mit öffentlichen Geldern finanziert.
Dies ist für gewöhnlich an einen kulturellen Auftrag gebunden, was durchaus Sinn macht und Filmemacherinnen und Filmemachern ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Der primäre Zweck eines Films muss nicht sein, möglichst viel Geld zu verdienen. Wenn also in Europa eine Filmemacherin oder ein Filmemacher einen Film machen will, muss dieser nicht nur unterhaltend sein, sondern gleichzeitig kulturell wertvoll.Beides zu erreichen, ist aber nicht ganz einfach. Albert Schweitzer, der berühmte Philosoph und Idealist, fand sogar, dass es gar nicht möglich sei.
Er meinte, dass Kunst und Kommerz unvereinbar seien. Wahre Kunst müsse komplett frei von kommerziellen Interessen bleiben, um ihren Wert zu bewahren. In anderen Worten: Denkt eine Künstlerin während ihrer Arbeit an die kommerzielle Verwertung, so verliert die Kunst in dem Moment ihren Wert. Ein schöner Gedanke. Für Filmemacher jedoch nicht der richtige, wie ich finde. Zuschauerinnen und Zuschauer investieren schliesslich eine beträchtliche Menge Zeit und Aufmerksamkeit in einen Film.
Angenommen, ich mache einen «Tatort», der in der Schweiz und in Deutschland im Fernsehen ausgestrahlt wird. Auf der Marktforschungsplattform Statista heisst es, dass ein «Tatort» im Jahr 2022 durchschnittlich von 8,14 Millionen Menschen gesehen wurde. 8,14 Millionen mal 90 Minuten sind 732,6 Millionen Minuten. Das sind 12,21 Millionen Stunden. Das sind 508750 Tage. Das sind 1394 Jahre. Bei einer Lebenserwartung von 82 Jahren sind das 17 Menschenleben.
Die Aufmerksamkeit, die ein durchschnittlicher «Tatort» am Fernsehen bekommt, ist also 17 Menschenleben lang, von der ersten bis zur letzten Sekunde, ohne Schlaf. Wie soll man da als Filmemacher noch gut schlafen? Die Verantwortung auf unseren Schultern ist riesig. Ein Spielfilm wie mein allererster, der 30 Prozent seiner Zuschauer einschlafen liess, müsste demnach fast strafbar sein. Wenigstens sollte von uns erwartet werden dürfen, dass wir unser Menschenmögliches tun, unsere Filme so unterhaltend wie möglich zu gestalten.
Leider ist die Unterhaltung in den letzten paar Jahren etwas in Verruf geraten. Genauer gesagt, in den letzten 2500 Jahren. Bereits bei den Griechen galt die Komödie als «tiefere» Kunstform als das Drama. Und das ist immer noch die vorherrschende Meinung. Aus diesem Grund gewinnen Komödien auch nur in den seltensten Fällen einen Oscar oder, noch viel wichtiger, den Schweizer Filmpreis. Eine Kunstform, die sich zum Ziel setzt, das Publikum zu unterhalten und zum Lachen zu bringen, kann nicht ganz ernst genommen werden.
Der Pöbel weiss doch nicht, was gut ist. Diese Haltung führt dazu, dass öffentliche Förderstellen nur selten Filme für ein breites Publikum fördern. Dies wiederum führt dazu, dass sich Filmemacherinnen und -macher verzweifelt auf den kulturellen Wert ihrer Filme konzentrieren anstatt darauf, was sie unterhaltender machen würde. Sie fragen sich: Was ist gut für die Förderstellen? Und nicht: Was ist gut für die Zuschauer? Das ist verständlich, denn ohne Unterstützung durch die Förderstellen können sie ihren Beruf nicht ausüben.
Ohne Zuschauer hingegen geht das hierzulande problemlos. Das Geld wird nicht mit dem Film verdient, sondern mit dem Filmemachen selbst. Filmemacherinnen und -macher in der Schweiz brauchen das breite Publikum nicht. Es reicht, wenn der Film – oder nur schon das Projektdossier – einer kleinen elitären Gruppe gefällt. In einer Demokratie, wo man davon ausgeht, dass das, was die meisten Menschen möchten, richtig ist und umgesetzt werden soll, ist diese Situation aber gefährlich.
Besonders in einer direkten Demokratie, wie wir sie in der Schweiz haben. Wenn wir Filmemacherinnen und -macher das breite Publikum nicht brauchen, dann ist es verständlich, dass es auch nicht einsieht, warum es uns braucht. Einen Vorgeschmack davon erhielten wir bei der Abstimmung über «Lex Netflix». Die Frage war, ob die US-Streamingdienste 100 Prozent von ihrem in der Schweiz erzielten Gewinn aus dem Land nehmen dürfen, oder ob sie 4 Prozent davon wieder in Schweizer Produktionen investieren müssen.
Schlussendlich fanden 41,6 Prozent der Bevölkerung, dass sie das Geld lieber US-Grosskonzernen schenken würden, als damit die Schweizer Wirtschaft und Filmbranche zu fördern und lokalen Content im Streamingangebot zu haben. Das ist hart. Als Filmemacher liebe ich Filme. Alle möglichen Filme. Ich bin ausgesprochen froh, dass es Filme gibt, die von wirtschaftlichen Interessen befreit sind. Als Konsument wie auch als Macher. Die Schweiz hat viele talentierte Filmschaffende.
Die Zukunft sieht also gut aus. Als in den USA ausgebildeter Filmemacher finde ich aber, dass die Szene durchaus etwas mehr «Hollywood» vertragen könnte. Der Zuschauer ist vielleicht nicht der einzige König. Aber er ist doch extrem wichtig. Wir machen unsere Filme schliesslich nicht für uns, sondern für die anderen. Und das gilt meiner Meinung nach auch für alle weiteren Kunstformen. Sorry, Albert.
Zur Person
Peter Luisi, 1975 in Zürich geboren, ist Drehbuchautor, Regisseur und Produzent. Seine acht Kinospielfilme, darunter «Der Sandmann» (2011), «Schweizer Helden» (2014) und «Flitzer» (2017), liefen erfolgreich im Kino wie auch an Festivals, wo sie über 50 Preise gewannen. Vor allem Publikumspreise. Sein neuer Film «Bon Schuur Ticino», kommt am 30. November in die Kinos.