Nein, eine geschlossene Bewegung mit strikt überzeugten Anhängern war es 1968 nicht, da können Sozialtheoretiker oder Historiker in ihren Untersuchungen die lautstarken Aktionen der jugendlichen Rebellen unbeirrt weiter so deuten.
Eine starke Erfahrung hat sich meinem Gedächtnis eingeprägt, eine, welche die Verhältnismässigkeit zurechtrückte, in der sich das Protestungestüm der Jungen abspielte: Da fidelte doch tatsächlich die legendäre Band Minstrels auf dem Hirschenplatz im Zürcher Niederdorf ihren heiteren Ohrwurm «Grüezi wohl, Frau Stirnimaa!», während vom Limmatquai her militantere Klänge durch die Gassen dröhnten: «Völker, hört die Signale!». Da erschien der internationale Kampfruf wie ein Echo auf die spiessbürgerliche Idylle, die derart rigoros zelebriert wurde, dass sie die Aufsässigkeit eines Protestsongs annahm. Das Eine und das Andere: Die Epoche von 1968 wurde tatsächlich nicht allein von den militanten Jubelrufen auf Marx und Lenin, Ho Chi Minh und Mao Tse-tung geprägt, sondern ebenso vom stilleren «Lucy in the Sky with Diamonds» der Hippies, die gleichzeitig ihre Kampagne für eine friedlichere Welt vortrugen: «Make Love not War!». Da entwickelte sich der Zeitgeist auf zwei parallelen Strängen. Und wer erkannte, wie der eine den andern zu korrigieren versuchte, zu relativieren, zu ergänzen, der hatte das Wesen von 1968 verbindlicher erfasst als jener, der die Gegensätze schärfte und verkrampft das angeblich Richtige vom vermeintlich Falschen abtrennte. Und schrien die einen Slogans vom Klassenkampf, von Entfremdung und Agitation, da zitierten die andern Zeilen aus den Gedichten des Idols Allen Ginsberg und predigten Sensibilisierung aller Sinne.
Der Wille zum Aufbruch war das Band, das die beiden Bewegungen verband – wenn auch die vertretenen Vorzeichen nicht unterschiedlicher sein konnten.
Der Umbruch war allenthalben spürbar: Der Mief, der aus den 50er-Jahren herüberwehte mit seiner Verhocktheit in überkommenen Regeln, der Festigung von Grenzen moralischer und politischer und künstlerischer Art, dem Ausgeliefertsein an ein von Autoritäten verordnetes Wertesystem, dies alles umzukrempeln, war die Absicht, denn schliesslich: In der Schweiz gab es kein Stimmrecht für die Frauen! Der Frauenbefreiungsbewegung ging es primär darum, gegen die Verweigerung des Stimmrechts anzukämpfen. Damit hatten die Schweizer Achtundsechziger einen Anlass zum Kampf, der den Rebellen an den Universitäten von Berlin und Paris, von wo aus der Funke nach Zürich übergesprungen war, fremd bleiben musste. In der Schweiz wurde er einer der Hauptmotoren des Widerstands. Er mobilisierte mehrere Generationen, da galt der Begriff «Studentenunruhen» allein nicht mehr.
In Berlin erreichte der Widerstand unerwartete Grade brutaler Drastik. Der Tod des Studenten Benno Ohnesorg beim Berlin-Besuch des Schahs von Persien war der Zunder, der eine weitere Stufe des Protestes entfachte. Die höchste Stufe der Gefährdung staatlicher Offizialität trat ein, als sich in Paris die Arbeiterklasse mit den Studenten solidarisierte. In der Schweiz aber erstickten die Versuche der militanten Linken, das Proletariat zu mobilisieren, in der kopfschüttelnden Verständnislosigkeit, mit der die Arbeiterschaft dem Schwall marxistischer Schlagwörter der studentischen Agitatoren gegenüberstand. Dennoch wurde jetzt vieles möglich, das vorher undenkbar war. Urs Widmer hat seine Erinnerungen ans Jahrzehnt vor 1968 in den Satz gefasst: «Es war verboten, farbige Socken zu tragen, und kein Student ging ohne Krawatte zur Universität.» Betulichkeit als Regel für soziales Verhalten. Da wurde Erneuerung ausgerufen.
Dass die fundamentalistischen unter den linken Revolutionären weniger bleibende Spuren im Gesellschaftsleben hinterliessen als ihr Widerpart vom Hippie-Underground, hat wohl damit zu tun, dass sie sich – als die Kulturrevolution ausbrach – in Marxisten und Maoisten aufteilten, und als sich dann das radikale Albanien von China lossagte, sich aus den Marxisten-Leninisten die Enveristen aussonderten. Der heutigen Bedeutungslosigkeit dieser Verkünder des politischen Heils stehen die Spuren gegenüber, welche die mittlerweile zu «Blumenkindern» emporstilisierten Hippies im kulturellen und sozialen Leben hinterlassen haben.
Da gilt es auch festzuhalten, dass 1968 das Jahr war, in welchem die Firma Sony die erste Videokamera auf den Markt brachte. Ein schnell weitverbreitetes Instrument, das ungezählten Amateuren wie auch Profis die Möglichkeit gab, die damalige Forderung nach «kreativer Selbstverwirklichung» am eigenen Leib und im eigenen Tun durchzusetzen. Will man das Gerücht für bare Münze nehmen, der Koreaner Nam June Paik sei weltweit einer der ersten Käufer eines solchen Videogerätes gewesen, so wird der Ausgangspunkt deutlich, von welchem aus die neue Gattung «Videokunst» in die Künstlerateliers und in die Museen vordrang. Auch darin lassen sich Folgen des unruhigen 68er-Jahrzehnts erkennen. Wenig später konnten Konzerte stattfinden, in denen dem Trompeter tatsächlich die Puste ausgehen durfte oder die Sängerin mitten in ihrer Arie ihren Niesreiz nicht unterdrücken musste, sondern nach Partitur ihr «Hatschi!» platzieren konnte. In derlei künstlerischen Ungebärdigkeiten lassen sich die Folgen ablesen der damals aktuellen Forderungen, die Grenzen zu sprengen und die sakrosanten Regeln im «Instrumentalen Theater» zu verletzen. Bis heute sind diese kühnen Errungenschaften nicht wieder rückgängig gemacht worden, sie geben den Komponisten vielmehr die willkommene Freiheit, sie zu gebrauchen – oder eben nicht. Ein weiteres Beispiel also für das produktive Weiterwirken der offenen Prinzipien der Jahre um 1968.
In einer kühnen Geste den überlieferten Normen zuwiderzuhandeln, das ist auch dem legendären Christo gelungen, als er die Kunsthalle Bern in Plastik verpackte und den Besuchern den festen Boden unter den Füssen entzog. 1968 lernte man die Dinge, also auch die Kunst, unter erschwerten Bedingungen zu betrachten und die Wahrnehmung zu schärfen. Die Grenzen zwischen den Gattungen waren gefallen. Die so gewonnene neue Freiheit wird auch jetzt – 50 Jahre danach! – weitergetrieben; angesichts dieses ernsthaften Weiterarbeitens musste die Kritik und die Ablehnung betulicherer Kunstfreunde verstummen. Das damals Ungewöhnliche, das Provozierende ist heute Allgemeingut geworden. Da hallt noch immer Rosina Kuhns Ausruf nach, sie lasse ihre Malerei nicht vom Bilderrahmen einengen: «Ich will die ganze Welt anmalen!»
Diese Entwicklung liesse sich auch in der Literatur belegen: Wichtige Schweizer Verlage, Rotpunkt, Limmat und Unionsverlag, sind Kinder des 68er-Geistes, ihr intellektuelles Programm ist damals geeicht worden, Urs Widmers Erstling «Alois», Adolf Muschgs Zweitling «Gegenzauber» und Clemens Mettlers schwer zu erklimmender «Glasberg» sind Veröffentlichungen von 1968. Und gibt es auch Stimmen, welche die Epoche von 1968 für tot erklären, ihren Geist ins Leichentuch einwickeln möchten, solange Künstler und Autoren am damals Erreichten weiterarbeiten, solange Verleger diesen Stimmen zur Geltung verhelfen, kann von diesem Tod, diesem vermeintlichen Tod, keine Rede sein.
Peter K. Wehrli
Der 78-Jährige arbeitete als Kulturredaktor beim Schweizer Fernsehen und veröffentlichte Bücher wie den «Katalog von Allem».