20 Minuten lang habe sie gestern an der Filmpremiere geweint, sagt Penélope Cruz. Das sei sonst nicht ihr Naturell. «Aber meine 14-jährige Filmpartnerin Luana Giuliani hat mich so sehr an meine erste eigene Festivalteilnahme erinnert.»
Das war 1992 in Venedig, der Film hiess «Jamón Jamón», und Cruz, die damals ihre allererste Filmrolle neben ihrem heutigen Ehemann Javier Bardem spielte, war gerade 18. Im Herbst 2022 gastiert Cruz wieder an den Filmfestspielen in Venedig, aber diesmal hat man für den spanischen Superstar gleich eine ganze Villa freigeräumt, worin sich unter anderem eine eigens installierte Bar, ein Make-up-Studio und mehrere Interview-Sitzecken finden.
Interessiert an Stoffen, die eine Debatte anstossen
«L’immensità» heisst der Film, der sich um häusliche Gewalt dreht, aber nicht etwa in Madrid spielt, sondern in Rom. Sie verkörpere eine spanische Frau namens Clara, die schon länger in Italien lebe, sagt Cruz. «Das hatte den Vorteil, dass ich mir meinen spanischen Akzent nicht abzutrainieren brauchte. Für sowas benötigt man sonst mehrere Monate.»
Als Schauspielerin sei sie heute an schwierigeren Themen interessiert, die eine Debatte anstossen könnten. «Zentral war für mich bei ‹L’immensità›, dass der Film aus Sicht der drei Kinder erzählt wird. Es geht darum, wie sie ihre Ängste verstecken und so zu tun versuchen, als sei alles in Ordnung.» In einer Szene aber macht der junge Bub in der frisch bezogenen Neubauwohnung sein Geschäft auf den Boden. «Als ich diese Szene las, war mir sofort klar, was er sagen will: Ich sollte der Mann im Haus sein – nicht mein Vater.»
«Ich hatte Zeit, auch für Langeweile»
Konnte Cruz, die zusammen mit Javier Bardem einen elfjährigen Sohn und eine neunjährige Tochter hat, ihr eigenes Muttersein in diese Rolle einbringen? «Nicht nur für diese Rolle», antwortet die Schauspielerin umgehend. «Eine Mutter zu sein, veränderte mich von Anfang an total.
Ich war zwar immer familienorientiert, aber jetzt geniessen meine Kinder oberste Priorität, die Karriere kommt an zweiter Stelle.» Das sei auch der Grund, weshalb sie oft nur noch einen Film pro Jahr drehe. So könne sie mit dem Nachwuchs auch mal in die Ferien fahren. In «L’immensità» erscheint Cruz alias Clara ihrer Umwelt manchmal wie ein Freak. Auch weil sie ihre Kinder lieber mal machen lässt, als sie zu ohrfeigen. In den Augen der anderen ein No-Go. Wo hat sie dafür Parallelen im eigenen Leben gefunden?
«Als Teenager konnte ich mich stundenlang mit Kultur beschäftigen, ganz gleich ob Film, Musik, Ballett oder Theater. Mein Umfeld, vor allem die Lehrer, fanden, dass ich verrückt sei. Aber es kümmerte mich nicht, denn ich hatte Zeit, auch für Langeweile. Und wenn ich mich langweilte, fing meine Fantasie erst richtig Feuer. Ich war dann voller Träume und Pläne.» Wenn Cruz über diese Erlebnisse spricht, spürt man Enthusiasmus, sie schnippt mit den Fingern, ihre Stimme schwingt wie ein Instrument.
Jedenfalls bis sie darüber sinniert, wann wohl die heutige Jugend noch Zeit habe, um einfach mal nichts zu tun. Gute Frage. Was den eigenen Nachwuchs betrifft, sind die Grenzen klar abgesteckt: «Es gibt für sie keine Social Media und kein Mobiltelefon. Da diskutiere ich nicht, egal, für wie rückständig man mich hält. Das ist schädlich für die geistige Gesundheit.» Man brauche ja bloss Interviews mit Techgurus wie Steve Jobs zu lesen. «Die haben ihre Erfindungen den eigenen Kindern auch nicht in die Hand gegeben.»
So mag es für Cruz eine Erleichterung gewesen sein, dass «L’immensità» in den 1970ern spielt. Kein Handy weit und breit. Wobei die Vorbereitungen durchaus speziell waren: «Regisseur Emanuele Crialese zeigte mir ab und zu Fotos von seiner Familie oder von Orten, wo er aufwuchs. Es waren kleine Dinge mit grosser Wirkung.» Zusammen mit den Filmkindern sei Crialese dann auch nach Madrid gekommen, «wo wir nicht nur probten und improvisierten, sondern auch zusammen assen oder im Pool planschten.» So sei diese enge Beziehung entstanden, die man im Film spüren könne.
«Ich hoffe, dass ich sehr, sehr alt werde»
Gut möglich, dass in Madrid auch getanzt und gesungen wurde. Um die Schwere im Film zu brechen, gibt es in «L’immensità» immer wieder Szenen, in denen die Figuren zu Songs von Adriano Celentano oder Raffaella Carrà in musikalische Traumwelten entfliehen. «Ich war als Kind ein Riesenfan von Carrà», sagt Cruz. «Zu Hause übte ich ihre Songs, und meine Mutter schleppte mich dann in den Park, wo ich vor ihren Freunden diese Nummern nachspielte.»
Traurig bloss: «Ausgerechnet an jenem Tag, als wir die Szene mit Carràs Song ‹Rumore› drehten, kam der Produzent rein und sagte, dass die Sängerin gestorben sei. Dabei hätten wir sie so gerne noch ans Set eingeladen.»
Die Interview-Zeit ist fast um, Zeit für eine letzte Frage: Frau Cruz, Sie werden nächstes Jahr 50. Haben Sie keine Angst vor dem Alter? «Nein, ich würde diesbezüglich auch nie lügen. Stattdessen hoffe ich, dass ich sehr, sehr alt werde, denn ich schaue gut zu meiner Gesundheit. Zum Beispiel gehe ich nie an Partys.» Wirklich nie? «Nun ja, zu meinem 50. Geburtstag werde ich eine Ausnahme machen. Da will ich für einmal ein richtig grosses Fest feiern.
Zum Film «L’immensità»
Als Emanuele Crialese seinen Film 2022 am Festival von Venedig vorstellte, gab er sein Coming-out als Trans-Mann. In «L’immensità» spiegelt der italienische Regisseur diese persönliche Geschichte an der ältesten Tochter Adri (Luana Giuliani), die lieber ein Junge wäre. Kommt hinzu, dass deren Eltern Clara (Penélope Cruz) und Felice (Vincenzo Amato) gerade in einen Neubau in Rom gezogen sind – umzingelt von Baustellen und gegenseitiger Lieblosigkeit.
Kein Wunder, heben die Figuren ihren Blick in diesem Film immer wieder verzweifelt gen Himmel. Die besten Momente hat «L’immensità» im Zusammenspiel von Cruz und Giuliani – und wenn sich die beiden zu Songs von Raffaella Carrà und Adriano Celentano aus der tristen Wirklichkeit davonsingen und tanzen.
Spielfilm im Kino
L’immensità
Regie: Emanuele Crialese
I/F 2022
97 Minuten, ab Do, 1.6.
Porträt im TV
Penélope Cruz – Diva im Spiegel
Regie: Charles-Antoine de Rouvre
F 2022, 52 Minuten
Sa, 10.6., 06.40 Arte Stream bis Do, 15.6.: www.arte.tv