Am vergangenen 3. Oktober erschien in der Tageszeitung «Blick» ein beachtenswertes Interview mit Susanne Wille, der Kulturchefin von SRF. Die Boulevardzeitung betitelte das Interview mit den Worten «Wille killt Publikumsliebling Wilder». Die Entscheidung, die beliebte Krimi-Serie nach der nächsten Staffel zu beenden, dürfte beim TV-Publikum tatsächlich zu reden geben. So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass die erwähnte Zeitung diesen Aspekt des Interviews in den Vordergrund rückte. Eine Zeitung darf natürlich selber entscheiden, worauf sie den Fokus eines Interviews legt. Aber selbstverständlich steht es auch den Programmverantwortlichen von SRF frei, von Fall zu Fall zu entscheiden, was abgesetzt und was neu ins Programm aufgenommen wird.
Vor lauter Aufregung über die beschlossene Absetzung der selbstproduzierten Krimi-Serie ging jedoch eine andere, viel brisantere Aussage der Kulturchefin in besagtem Interview beinahe unter: Der «Blick»-Journalist redete mit der Abteilungsleiterin von SRF über die Produktion des Schweizer «Tatorts». Dabei sagte der Interviewer, Frau Wille habe kürzlich betont, dass bei den künftigen Folgen gleich viele Frauen wie Männer vor der Kamera stehen. Die Antwort der Kulturchefin auf diese nicht als Frage formulierte Frage lautete: «Mir sind Gleichstellung und Chancengleichheit sehr wichtig. Wir messen bei Drehbüchern oder in der Produktion den Geschlechteranteil und achten auch vor der Kamera auf die Vielfalt. Es kann und soll hier aber noch mehr gehen: Mit der Schweizer Filmbranche erarbeiten wir derzeit gerade eine Checkliste, die das Bewusstsein für das Thema Diversität schärfen soll. Davon versprechen wir uns viel.»
Gleichstellung und Chancengleichheit sind zweifellos wichtige Werte. Und es besteht ein breiter Konsens darüber, dass diese Werte noch erkämpft werden müssen. Dennoch provoziert die oben zitierte Aussage die Frage, wie Gleichstellung in der darstellenden Kunst gemessen werden soll. Muss hierfür vielleicht gezählt werden, wie viele Frauen und wie viele Männer in einem Film auftreten und ob das Verhältnis zwischen Frauen und Männern ausgeglichen ist? Geht es zunächst nur um die Anzahl der Auftretenden oder sollen auch die Präsenzdauer und Dialoglänge des jeweiligen Geschlechts gemessen werden?
Solche und ähnliche Fragen führen fast zwangsläufig zu weiteren Fragen, die nicht weniger schwer zu beantworten sind. Wie kann beispielsweise in Spielfilmen oder Serien die Lebensrealität einer bestimmten Gegend und einer bestimmten Zeit abgebildet werden, wenn schon im Voraus bestimmt ist, dass das Verhältnis von männlichen und weiblichen Figuren ausgeglichen sein muss?
Eine derartige Vorgabe mag in Fantasy-Produktionen, erfundenen Welten oder pädagogischen Lehrfilmen umsetzbar sein. Aber was ist mit Filmen, die sich mit der gelebten Realität auseinandersetzen möchten? Sollen sich Autorinnen und Autoren von Drehbüchern nur noch in Lebenswelten hineindenken, in denen der Geschlechteranteil ausgeglichen ist? Was ist mit einer Serie, die beispielsweise in einem typischen Frauenmilieu oder einem typischen Männermilieu angesiedelt ist? Müssten solche Lebenswelten zurechtgebogen werden für eine gerechte Geschlechterverteilung? Soll dann das, was in der realen Welt noch nicht erreicht wurde, in der TV-Welt vorgespielt werden? Wem hilft es, wenn Autorinnen und Autoren die Welt dem Publikum so präsentieren, wie sie sie gerne haben möchten?
Besonders Willes Aussage «Wir messen bei Drehbüchern oder in der Produktion den Geschlechteranteil und achten auch vor der Kamera auf die Vielfalt» ist, falls sie das wirklich so gesagt haben sollte, eine Beleidigung des Intellekts des TV-Publikums. Was sagt die Anzahl der Frauen und Männer über die Qualität eines Films? In typischen Mafiafilmen sind die Männer in der Überzahl, weil in der Mafia die Männer die Mehrheit der handelnden Subjekte stellen. Bei der US-amerikanischen Serie «Sex and the City» sind die Hauptrollen mit Frauen besetzt, weil es um die Lebenswelt der gezeigten Frauen geht. Sagt dieser Umstand etwas über die Qualität der jeweiligen Produktionen aus? Selbstverständlich liesse sich auch ein Mafia-Film drehen, bei dem der Fokus auf dem Alltag der Frauen liegt. Das wäre dann einfach ein anderer Film, so wie «Sex and the City» eine andere Serie wäre, wenn die Hauptrollen mit Männerfiguren besetzt würden.
Als Autor kann ich mir die Frage stellen, ob ich eine Geschichte schreibe, in der eher Frauen oder eher Männer vorkommen. Ich kann mir auch vornehmen, eine Geschichte zu erzählen, in deren Verlauf die Geschlechter ganz gerecht verteilt sind. Aber wenn dies der Hauptpunkt ist, auf den geachtet wird, dann wird die Absicht sehr schnell sehr leicht durchschaubar. Als Konsument einer TV-Serie will ich mir nicht vorspielen lassen, die Gesellschaft sei schon dort, wo wir sie dereinst haben möchten. In Romanen oder Drehbüchern zu zählen, wie viele Männer und wie viele Frauen vorkommen, hilft weder den Frauen noch den Männern, aber am allerwenigsten hilft es der Kunst. Es ist zweifellos interessanter, wenn die Autorinnen und Autoren das Milieu, von dem sie erzählen wollen, gut beobachten und vorurteilsfrei kennenlernen, als wenn sie Frauen und Männer zählen.
Susanne Wille sprach im Interview von einer Checkliste, die das Bewusstsein für das Thema Diversität schärfen soll. Das ist sicher gut gemeint, und gegen Checklisten ist wenig einzuwenden. Aber wer erstellt danach die Checkliste, die das Bewusstsein für Themen wie soziale Ungleichheit oder Ökologie schärft? Und mit was für einer Art von Checkliste liesse sich das Bewusstsein für die Freiheit des schöpferischen Prozesses schärfen?
Pedro Lenz
Pedro Lenz (*1965) lebt als freier Autor und Kolumnist in Olten. Er ist Mitglied des Spoken-Word-Ensembles «Bern ist überall» und veröffentlichte zahlreiche Bücher und CDs. Sein Bestsellerroman «Der Goalie bin ig» wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, als Theaterstück aufgeführt, diente als Vorlage zum gleichnamigen Spielfilm und erschien bisher in zehn Übersetzungen. Als Letztes ist 2020 sein Roman «Primitivo» erschienen.