A aaaaaa!» – «Geeeeee!» Die Kleine war an einem Sonntag mit der Familie im Zug unterwegs und freute sich jedes Mal, wenn sie in der Landschaft einen Buchstaben sah. Und bald schon hatte sie den ganzen Eisenbahnwagen mit ihrer Freude angesteckt. Dort seien ein «A» und ein «G», sagte sie zum Beispiel strahlend oder dort, dort, dort sollen sie alle hinschauen, denn dort, dort sei noch ein «A» und das daneben, das sei ein «Q». Die Freude des Kindes, an jedem gesehenen und erkannten Buchstaben, war nicht bloss ansteckend, sie war auch anregend. Sie erinnerte mich an meine eigene Freude, als ich anfing, Buchstaben zu erkennen und zu benennen. Es handelt sich um eine Freude, die in einem Menschenleben plötzlich da ist und danach nie mehr aufhört, uns zu überraschen und uns zu unterhalten.
Die kindliche Freude an den Buchstaben ist eine Freude, die mir künftig sogar helfen könnte, eine der meistgestellten Fragen zu beantworten. Wenn man nämlich als Schriftsteller an einer Lesung die Anwesenden fragt, ob jemand etwas fragen möchte, dann fragen die Leute normalerweise zuerst nach der Herkunft der Ideen. «Woher nehmen Sie eigentlich Ihre Ideen?»
Die Frage ist zwar sehr berechtigt und sehr verständlich, trotzdem bleibt sie immer auch ein bisschen irritierend. Könnte ich diese Frage leicht beantworten, dann hiesse das ja, dass ich es schon wüsste und nie mehr nach Ideen suchen müsste. Eine klare und eindeutige Antwort auf die Frage nach der Herkunft der Ideen würde bedeuten, dass ich nur hinzusitzen und die Ideen aufzuschreiben bräuchte. Weil aber die meisten Schriftsteller selber nicht so recht wissen, was Ideen genau sind und wo sie sich verstecken, bleibt die Antwort auf diese so häufig gestellte Frage immer ein bisschen unbefriedigend.
Aber möglicherweise sollten wir gar nicht allzu verbissen nach einer gescheiten Antwort Ausschau halten. Vielleicht hat das kleine Mädchen, das an einem Sonntag mit dem Zug unterwegs war, die berühmte Frage bereits beantwortet. Die Ideen muss man gar nicht suchen. Sie sind immer schon da. Sie liegen und hängen überall, auf Broschüren, auf Zetteln, auf Zeitungen, an Gebäudefassaden, an Schildern, auf Kleidungsstücken, an Türen und nicht zuletzt auf den Tastaturen unserer Schreibgeräte. Die Ideen sind nichts anderes als die kleinen und grossen Buchstaben, die uns ständig umgeben. Wer die Buchstaben anschaut und erkennt, hat schon alles, was es braucht, um losschreiben zu können.
Die Buchstaben sind die grösste Inspirationsquelle, die sich ein schreibender Mensch vorstellen kann. In der ersten Schulklasse mussten wir, wie wohl alle Kinder meiner Generation, jeweils ganze Seiten mit einem einzigen Buchstaben füllen. Das war anstrengende Arbeit, denn die Buchstaben wollten erst erkämpft werden. Die kleine Hand musste lernen, wie die beiden Bäuche des Buchstabens «B» zu zeichnen sind, damit sie genau ins Häuschen passen. Die Hand musste sich daran gewöhnen, dass die waagrechten Striche des «F» gegen rechts und nicht gegen links zeigen. Und der kleine Mund musste sich daran gewöhnen, dass man, um ein «F» auszusprechen, Luft aus den Lippen pressen muss, wohingegen ein «B» nur wenig Luft, aber schön zusammengelegte Lippen verlangt. Aber jedes Mal wenn wir die Arbeit erledigt hatten und ein Blatt vollgeschrieben war mit einem neuen Buchstaben, hatten wir uns der Beherrschung der geschriebenen Sprache einen Schritt weiter angenähert.
Zu jedem Buchstaben unseres Alphabets haben wir eine persönliche Beziehung. Und wenn wir erst einmal anfangen, einzelne Buchstaben zu zeichnen und aneinanderzureihen, entsteht bereits ein Text. Wir können eine ganze Seite mit einem einzigen Buchstaben füllen und uns selbst den entstandenen Text laut vorlesen. Das ergibt bereits einen Klang, dessen Tempo und Rhythmus sich nach Belieben variieren lässt. Danach können wir anfangen, verschiedene Buchstaben nebeneinanderzustellen, bis Wörter und ganze Sätze entstehen. Am Anfang jeder Schreibarbeit sind immer die Buchstaben. Alles andere, wie Klang und Inhalt, kommt hinterher.
Oft hört oder liest man von der Angst des Autors vor dem leeren Blatt. Meist ist dann von einer Schreibblockade oder einem Schreibstau die Rede. Dabei müsste das leere Blatt, das diese gefährliche Angst auslöst, gar nie leer bleiben. Es genügt, wenn wir es mit Buchstaben füllen. Kreativität ist bloss eine Frage des Ausprobierens, des Handelns. Wir können sie untereinanderstellen. Wir können sie aneinanderreihen. Wir können sie verdoppeln und wieder durchstreichen. Wir können uns vornehmen, einzelne von ihnen zu bevorzugen und andere wegzulassen. Wir können mit den Buchstaben alles mögliche tun. Wer stundenlang vor dem leeren Blatt sitzt, handelt nicht, deshalb geschieht nichts. Dabei sind die Buchstaben immer schon da. Sie liegen auf der Tastatur und lachen uns an, genau so, wie sie das kleine Mädchen anlachen, das aus einem Eisenbahnfenster schaut und nicht aufhören kann, sich über jeden Buchstaben zu freuen, den es erkannt hat.
Pedro Lenz
Der 1965 in Langenthal BE geborene Pedro Lenz ist über Umwege zur Schriftstellerei gelangt: Nach einer Maurerlehre holte er die Matura nach und machte sich zuerst in der Poetry-Slam-Szene einen Namen. Seit 2001 ist er vollzeitlich als Schriftsteller tätig. Für seinen berndeutschen Roman «Der Goalie bin ig» erhielt er mehrere Auszeichnungen, etwa den Deutschschweizer Schillerpreis. Lenz ist Mitglied des Bühnenprojekts «Hohe Stirnen» und der Spoken-Word-Gruppe «Bern ist überall». Vor kurzem ist sein Mundart-Erzählband «Liebesgschichte» im Cosmos Verlag erschienen.
Pedro Lenz lebt in Olten.