Es wird Frühling. Früher auf dem heimischen Bauernhof war dies die Zeit, in welcher die fremden Kater, die räudigen Röiel, um den Hof schlichen und mit ihren Gesängen die Katzen anzulocken versuchten. Der eine oder andere wurde von einem Mäher erwischt oder kam unter einen Traktorreifen. Das war eine grausame Art der Geburtenkontrolle: ein stampfender John-Deere-Traktor statt ein eingeimpfter Chip im Ohr; ein Deutz zur Dezimierung statt tierärztlicher Katzen-Kastration, Messerbalken statt Skalpell. Da scheint die von Mani Matter besungene Exekution Ferdinands, der um Liebe im Quartier geworben hatte, geradezu human.
Es war die Zeit, in welcher die ersten Katzen bereits den ersten Frühlingswurf gut hinter Strohballen oder Scheiterbeigen versteckten, unter dem Heustock oder zwischen Reisigwellen und Wellenbock. Wir Kinder machten uns einen Sport daraus, die Nester mit den Jungtieren zu finden. Wir kletterten auf schwankende Holzstösse und krochen verbotenerweise unter die schmalen Paletten, unter dieses fast filigrane Lattengerüst, auf welchem tonnenschwer die Heuernte des vergangenen Jahres lagerte. Die Luft war stickig, schwer zu atmen und wir waren immer auf der Hut vor den Katzenmüttern, vor diesen ungezähmten, wilden Verteidigerinnen ihrer Brut. Raubtiere, Mäusejägerinnen, ihr einziger Zweck und ihre Daseinsberechtigung. Leider erwischten sie auch die Singvögel. Oder uns. Die Kratzer, welche das fauchende Muttertier auf Gesicht und Armen hinterlassen hatte, trugen wir so stolz vor uns her wie schlagende Verbindungsbrüder ihre Schmisse. Ein Frühling ohne Narben auf der Haut war überhaupt gar nichts wert.
Viele der jungen Frühlings-Kätzchen überlebten nicht, wir sahen es oft schon daran, dass sie verklebte, vereiterte Äuglein hatten. Konnten wir ihrer habhaft werden, wuschen wir die Augen mit Kamillentee und liessen der Katzenmutter ausnahmsweise etwas Futter aus Dosen da, denn wir wussten, dass das Mausen nicht reichte, um die Kleinen zu versorgen. Dann und wann versuchten wir ein verstossenes Büsi mit der Flasche grosszuziehen. Doch es gelang nie.
Es wird Frühling. Wer kontakt- und liebeshungrig ist, kriecht aus den Lockdown-Löchern auf der Suche nach offenen Gartenterrassen und offenen Herzen. Es wird Frühling und ein Kater geht um.
Es ist der grosse Corona-Kater. Er sitzt uns in den Knochen und kratzt an den Lungenbläschen. Wer Covid durchgemacht hat, spürt noch immer den Schwanz des Katers, der um die Beine streicht und einen zum Straucheln bringt. Der Kater ist ein Jahr alt und schnell gewachsen, er wurde gemästet mit Krankheit und Tod, mit Masken und Massnahmen, mit Tränen, Quarantänen und quälenden Unsicherheiten. Und auch er jagt gierig nach Mäusen und Dividenden, nach Krisen-Gewinnlereien oder wenigstens Covid-Hilfsgeldern. Es ist der Moudi, von Stiller Has besungen, der Moudi, der schon am Morgen vier Rosen in flüssiger Form braucht, der Moudi, der an der Flasche hängt und doch nie genug bekommt.
Doch es wird Frühling, und allein schon das verheisst Hoffnung. Wir erobern die Welt in vorsichtigen Schritten, wir bespielen die Bühnen der Natur, ein Feldweg wird unser Laufsteg, ein Grillplatz unsere Backstage, ein kalter Fluss unser Wellnesspool. Noch liegt nicht allzu viel Gesang in der Luft. Bob Marleys drei kleine Vögel trauen sich nicht an unsere Türschwelle, sie könnten vom hungrigen Kater gefressen werden. Wir müssen uns selber Mut machen. Noch glauben wir nicht daran, dass alles gut wird, «every little thing’s gonna be all right».
Es braucht Geduld. Dieses Sich-nicht-nahe-kommen-Können, dieses Distanz-Wahren scheint so gar nicht zu passen zu den länger werdenden Tagen und lauen Nächten. Jetzt, da die Dunkelheit langsam weicht, weder alle Katzen noch alle Tage grau erscheinen, jetzt, da das Leben wieder bunt wird. Immer wenn die Erlösung nur noch einen Katzensprung entfernt ist, springen die Kurven wieder launenhaft in die Höhe. So eine Pandemie ist eine Wundertüte, eine Katze im Sack, zu Englisch: «Cat in the BAG».
Der Kater hat seine Krallen in unseren Nacken geschlagen, und wir scheinen ihn nicht mehr loszuwerden, dieses resiliente Tier, das neun Leben hat und nach jeder Welle stärker wird.
Ich habe nicht vergessen, wie ich durch den Staub gekrochen bin unter dem Heustock. Wie ich mir blutige Stigmata in die Hände schlagen liess. Wie sich die Augen mithilfe von Geduld und Kamillentee von der Blindheit befreien liessen. Wie ich mehr als einmal von den Strohballen fiel. Und immer auf den Füssen landete.
Wir müssen nicht auf Traktoren warten oder Mäher, um zu wissen, dass wir stärker sind als ein kleines Tierchen. Wir können auf unseren Verstand bauen, auf Wissenschaft und Medizin. Kamillentee ist in Fülle vorhanden. Und wer Whiskey bevorzugt, wird ebenfalls fündig. Bis die Flaschen leer sind.
Es wird Frühling, und wir müssen noch warten. Umarmen, Streicheln, Festhalten ist heute den Katzen vorbehalten. Doch nicht mehr lange. Ausnahmsweise freuen wir uns auf die versprochenen Dosen.
Und dann werden wir stolz die Impf-Narben auf dem Arm tragen, dann dürfen wir wieder singen, rauchig und kratzig, wie es sich gehört bei einem richtigen Kater, bei einem räudigen Moudi, «singing don’t worry about a thing, cause every little thing’s gonna be all right», und so im vollen Gesang erinnern wir uns daran, dass Ferdinand gestorben ist. Und dass die meisten Kater irgendwann unter die Räder kommen. Die vier Rosen für sein Grab würde ich persönlich spenden. Möge er ruhen in Frieden.
Patti Basler
Patti Basler (*1976) bringt die Bodenständigkeit einer Aargauer Bauerntochter von der Heu- auf die ShowBühne. Die ehemalige Lehrerin und studierte Erziehungswissenschafterin schreibt und tritt mit Bühnenpartner Philippe Kuhn im deutschsprachigen Raum auf. 2019 hat sie den Salzburger Stier erhalten. Bei SRF ist die Poetry-Slam-Künstlerin, Autorin und Satirikerin in verschiedenen Sendungen zu sehen und zu hören. Etwa im «Spasspartout-Sorgentelefon – Die dargebotene Faust», das auch als Podcast erhältlich ist. Patti Basler lebt bei Baden AG.