Einst liessen Jazzproduzenten sich hinter getönten Scheiben in schweren Limousinen chauffieren. Ihre Arbeitsplätze waren in den oberen Etagen der New Yorker Hochhäuser. Sie sassen in noblen Office-Penthouses, tranken teuren Whisky, spannten das multinationale Vertriebsnetz und entwarfen miese Verträge für die Jazzmusiker. Nebenbei waren sie im Wodkahandel tätig oder investierten in die Waffenproduktion. Das Geschäft boomte, der Dollar floss. Und vom Fliessband rollte Schallplatte um Schallplatte. Dieses Bild des Jazzproduzenten im «Golden Age» des amerikanischen Musikgeschäfts wirkt bis heute nach.
Doch die Zeiten haben sich drastisch verändert. Vor wenigen Wochen besuchte ich in New York zwei Jazzlabel-Betreiber der jüngeren Generation. Yulun Wang und Seth Rosner betreiben seit 15 Jahren eines der innovativsten Avangarde-Labels: Pi Recordings. Sie veröffentlichen die kreative Musik der New Yorker Jazzszene und haben Pioniere der Great Black Music wie Steve Coleman, Henry Threadgill und Roscoe Mitchell im Katalog. Sie produzieren mit dem erfolgreichen Gitarristen Marc Ribot und bauten junge Jazzstars auf wie Vijay Iyer oder Rudresh Mahanthappa.
Wir treffen uns in der Lobby des bescheidenen Hotels, wo ich, der Produzent des Schweizer Jazzlabels Intakt Records, jeweils unterkomme, wenn ich in New York Aufnahmen betreue. Pi Recordings und Intakt Records arbeiten seit einigen Jahren zusammen, wir tauschen Informationen aus, analysieren gemeinsam die Lage des Musikgeschäfts. Pi Recordings berät unsere Werbetätigkeit in den USA, und Intakt Records stellt den New Yorkern die Vertriebsstruktur in der Schweiz für deren CDs zur Verfügung. Pi Recordings fand in der Schweiz keinen Vertrieb. Denn es gibt in der Schweiz keinen Vertrieb mehr, zumal für Jazz. Die paar wenigen verbliebenen Distributionen haben vielleicht noch ein Büro in der Schweiz, aber sie liefern aus ihren Niederlassungen im kostengünstigeren Ausland.
Unser Gespräch, das den ganzen Nachmittag dauert, ist so angeregt, dass wir sogar vergessen, Kaffee zu trinken. Yulun Wang kommt aus der Finanzbranche. Er verdient seinen Lebensunterhalt als Berater. Damit bringt er im teuren New York seine Familie durch. Seth Rosner ist Soziologe und arbeitet bei einer Immobilienfirma. Ihr CD-Label betreiben sie ehrenamtlich. Ohne Lohnkosten und ohne Büromiete können sie die Aufnahmen einiger der weltbesten Jazzmusiker durch die Verkaufseinnahmen finanzieren. Es ist eine Notlösung. Sie haben begriffen, dass auf dem teuren Pflaster des Big Apple ein Jazzlabel nur noch ehrenamtlich betrieben werden kann. Was für eine Krise! – Und was für ein Enthusiasmus! Ein Enthusiasmus gepaart mit Realitätssinn, Hartnäckigkeit und Sachkenntnis. Das sind sich ergänzende Fähigkeiten, die es braucht, um heute als Verleger von innovativer Musik überleben zu können.
Man kann den Beruf des Produzenten und Labelbetreibers nicht lernen. Schon gar nicht heute, wo die technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen jeder Analyse und jedem Lehrplan davoneilen. Mit der dramatischen Veränderung des Musikgeschäfts der letzten Jahre haben sich die Rolle und das Bild des Verlegers radikal verändert. Professionelle Strukturen lassen sich heute aus den Verkaufseinnahmen nicht mehr finanzieren. Ähnlich wie Yulun Wang und Seth Rosner betrieb auch ich das Label Intakt Records die ersten Jahre ehrenamtlich. Das Büro befand sich in meiner Wohnung, das Lager im Keller des Hauses.
Aber erst seit Intakt Records in der Binz in Zürich ein Domizil bezog und sich ein professionell arbeitendes Team mit mehreren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bildete, schaffen wir es, ein internationales Vertriebsnetz aufzubauen. Es ist das Ziel des Verlegers, mit all seinen zur Verfügung stehenden Mitteln zur Verbreitung der Musik der Künstlerinnen und Künstler beizutragen. Heute stehen unsere CDs in Berlin, Paris, London, Barcelona, New York oder Tokyo in den Läden, und der gesamte Katalog kann als Download oder Stream bezogen werden. Diese Infrastruktur ist die Voraussetzung dafür, dass wir jährlich gegen 20 neue CDs produzieren und den Katalog mit mehr als 260 Veröffentlichungen pflegen können – mit Sorgfalt, Kenntnis und Neugierde.
Wie lässt sich eine Musikproduktion, die das Innovative, das Visionäre, das Neue und Unerhörte in den Mittelpunkt stellt, finanzieren? Die Verkäufe allein zahlen die Produktion und Distribution heute nicht mehr. Die CD-Preise sind eingebrochen. Downloads sind viel zu billig. Via Streams wird Kunst heute legal gestohlen. Auch der Standort Schweiz ist für uns ein Wahnsinn. Das Zürcher Pflaster ist teurer als jenes in New York: Ein ruinös hoher Frankenkurs, teure Mieten, Besteuerung selbst von Spenden und Stiftungsbeiträgen, astronomische Lebenskosten.
Wie kommen wir über die Runden? Zu den internationalen Käufern von guter Musik kommt ein Kreis von Abonnenten, die uns unterstützen, indem sie jährlich sechs CDs im Abo beziehen. Bewusste Jazzredaktoren beim Radio in Zürich, Berlin oder Warschau tragen in ihren Radiostudios zu finanzierbaren Aufnahmen bei. Dann gibt es einige wenige, aber für uns sehr wichtige Stiftungen und Förderinstitutionen, die Jazzschaffende und deren Produktionen unterstützen. Es braucht aber noch viel Überzeugungsarbeit, damit die Förderer und Mäzene die Not der produzierenden Verlage erkennen und deren für die Musikerinnen und Musiker lebenswichtige Arbeit unterstützen.
Am Ende jedes Jahres kommt es mir wie ein Wunder vor, dass wir die Rechnungen zahlen konnten. Wir sehen, wie rundum Labels, Vertriebe, CD-Läden, auch Buchverlage und Medien einstürzen.
Patrik Landolt
1956 in der Ostschweiz geboren, hat Patrik Landolt in Zürich Philosophie und Geschichte studiert. Von 1981 bis 2002 arbeitete er journalistisch, unter anderem für die «WOZ». Landolt ist Gründungsmitglied der Konzertreihe Fabrikjazz in der Rote Fabrik sowie der Festivals Taktlos und Unerhört in Zürich. Seit 1986 betreibt er das CD-Label Intakt Records, seit 2003 vollberuflich. 2012 kuratierte er das Festival Zürich – New York im Jazzclub Stone, NYC. 2010 erhielt er den Prix Suisseculture, 2014 den Preis für kulturelle Verdienste der Stadt Zürich.