TiiZii ist der Mann von Hildi. TiiZii ist unser
Onkel. Auch wenn er Chinese ist.
Wurde uns Kindern gesagt.
Hildi ist die grosse Schwester von Paula, Klara
und Fritz.
TiiZii ist Chinese. Also ursprünglich. Da er in
die USA emigrierte, wurde er Amerikaner.
Hildi wollte immer einen reichen Amerikaner
heiraten. Auch wenn er ein Chinese war. Darum
hat sie TiiZii geheiratet.
Sagte uns unsere Mutter.
Auch durfte Hildi einen Chinesen heiraten,
weil er ein reicher Amerikaner war. Mein Vater
musste beim Vater meiner Mutter unter-
schreiben, dass wir Kinder katholisch erzogen
werden würden. Mein Vater war ein armer
Protestant.
Sagte uns unser Vater.
TiiZii musste fliehen. Aus Schanghai, über den
Himalaja, nach Indien. In eine protestantische
Schule. Einst eine Mädchenschule, 1854 von
englischen Missionaren gegründet, weit oben
im Norden Indiens, nahe bei Nepal, auf über
2000 Metern über Meer. Und von dort nach
Marokko. Und dann weiter nach Amerika.
Damit er Hildi heiraten konnte.
Wurde uns erzählt.
TiiZii und Hildi müssen sehr reich sein. Sie
kamen
immer mit dem Flugzeug. Fliegen ist
teuer. Und TiiZii sei mehr im Flugzeug als auf
dem Boden.
Wurde uns gesagt.
Wer im Flugzeug lebt, muss nicht nur sehr
reich, sondern unglaublich reich sein.
Stellten wir uns vor.
Zumal TiiZii und Hildi nicht nur einmal
im Jahr in die Schweiz kamen. Manchmal
zwei-, manchmal dreimal. Und immer von
Amerika. Und für Hildi musste TiiZii auch bezahlen.
Und für Andrea, ihre Tochter, ja auch
noch. Also musste TiiZii mindestens zweimal
unglaublich reich sein.
Malten wir uns aus.
In der Schule hatte kein anderer einen mindestens
zweimal unglaublich reichen Onkel in
Amerika. Der eigentlich ein Chinese war.
Der bei Wind und Wetter barfuss über den
Himalaja bis nach Amerika geflohen ist, weil
die Kommunisten ihm das Leben nehmen
wollten. Wie seiner Mutter, die aus dem hohen
Adel Japans stammte. Wie dem Vater, der
einer wichtigen Familie Seidenindustrieller
angehörte. Weil TiiZiis Vater und seine Mutter
für uns wie für Maos Kommunisten fast Kaiser
von China und Kaiserin von Japan waren.
Prahlten wir auf dem Pausenhof herum.
Damit TiiZii Hildi heiraten konnte, musste
er noch nach Basel kommen. Nach Basel kam
er, weil er in einer Garage im Silicon Valley
mit seinem Partner chemische Analyseapparate
baute. Da Basel das Zentrum der Chemie
war, verkaufte er die Apparate hier. Die
konnten diese gebrauchen. Hildi war seine
erste Sekretärin. Geheiratet wurde zügig.
Erklärte man uns.
«Was heisst eigentlich TiiZii?»
Haben wir gefragt.
«Tee Punkt Zed Punkt.»
Wurde uns geantwortet.
«Tee Punkt Zed Punkt?»
Haben wir nachgefragt.
Das steht für Tao Zeun. Aber die Amerikaner
können kein Chinesisch und kürzen eh
immer alles ab. Darum heisst er TiiZii.
Wurde uns gesagt.
Aber TiiZii ist doch chinesischer Amerikaner.
Die müssen nicht abkürzen.
Dachten wir uns.
TiiZii konnte rasch jassen. Und wenn er
dazu Wein trank, wurde aus dem gelben
Chinesen schnell ein roter Amerikaner.
«Werden die mindestens zweimal unglaublich
reichen chinesischen Amerikaner beim
Jassen immer rot?»
Haben wir gefragt.
«Sie jassen nur, wenn sie in der Schweiz sind.
Sonst bleiben sie gelb.»
Wurde uns geantwortet.
TiiZii hat geholfen.
Wurde uns gesagt.
Weil TiiZii Mama half, ein Geschäft aufzuziehen,
zog bei uns der Filz ein. Anfänglich
wohldosiert für Karten, die sie
fertigte.
Karten, die freudige Ereignisse verkündeten.
Später war die ganze Wohnung
mit Filz gefüllt. Für Fasnachtkostüme. Bald
lief die ganze Stadt während drei Tagen in
unserem Filz herum. Das kommt heraus,
wenn ein jassender chinesischer Amerikaner
hilft.
Dachten wir uns.
TiiZii half meinem Bruder. Mein Bruder
ging zu TiiZii nach Amerika.
Wurde uns gesagt.
Hoffentlich bringt mein Bruder nicht noch
mehr Filz heim.
Dachten wir uns.
Mein Bruder wohnt nicht mehr bei TiiZii.
Wurde uns gesagt.
«Warum?»
Haben wir gefragt.
«Euer Bruder ist nicht einfach.»
Wurde uns gesagt.
«TiiZii ist nicht einfach.»
Hat uns unser Bruder gesagt.
Wer zweimal unglaublich reich ist, muss
zweimal unglaublich viel arbeiten.
Konnten wir uns denken.
TiiZii arbeitete immer mehr und kam immer
weniger nach Europa. Und er war auch
wenig da, waren wir in Amerika. Er hatte
auch seine zweite Firma verkauft und musste
noch bleiben. Der Käufer wollte, dass er
seine eigenen Freunde entliess. Das lastete
schwer auf ihm.
Was ich nachvollziehen konnte.
Papa hatte mir mit seiner Agentur, die ich
weiterführen sollte, ein schweres Erbe hinterlassen.
TiiZii half mit Rat: «Watch the
cash!» Und: «Hast du ein Problem, so löse es.
Sonst hast du es morgen immer noch.» Ich
habe den Ratschlag beherzigt und zwei Mitarbeiter
entlassen. Und die Firma gerettet.
Plötzlich verstanden wir, und TiiZii kam uns
immer näher. Aus dem chinesischen, zweimal
unglaublich reichen Amerikaner wurde
ein Mensch und Freund.
TiiZii sagte noch etwas: «Ich habe nie Rassismus
erfahren, obwohl ich vielerorts der
einzige Chinese war. Ich hatte Glück, ich
wurde stets nur als Mensch und aufgrund
meiner Leistung beurteilt. Ich traf auf Menschen,
die nach der Devise lebten: Guter
Mensch ist guter Mensch, schlechter Mensch
ist schlechter Mensch. Egal ob weiss,
schwarz, gelb, schwul, lesbisch, Amerikaner,
Chinese, Schweizer oder was weiss ich. Auch
das ist möglich auf dieser Welt.»
«Yesss», sagten wir und waren dankbar, dass
T. Z. damals den langen Weg barfuss zu uns
auf sich genommen hatte.
Patrick Tschan
Patrick Tschan, geboren 1962 in Basel, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie, führte in zahlreichen Theaterstücken Regie, war viele Jahre in der Werbung und Kommunikation tätig. Der Autor zahlreicher Essays und Kolumnen debüttierte 2011 als Romancier mit «Keller fehlt ein Wort». Es folgten weitere Romane. Zuletzt erschienen ist 2022 «Schmelzwasser» (Braumüller Verlag). Tschan lebt im solothurnischen Dornach.