Wo ist unser Rimuss?», fragte der Mittlere, als er sah, dass die Erwachsenen mit Champagner anstiessen.
«Ja, hast du den denn nicht mitgenommen? Ich habs doch hundertmal gesagt», giftete meine Schwägerin ihren Mann an.
«Wieso ich?»
«Muss ich denn immer an alles denken?»
«Die sind mittlerweile alt genug. Die können selbst an ihren Kinderchampagner denken, wenn sie den wollen», antwortete mein Bruder Martin gereizt.
«Siehst du», wandte sich die Schwägerin an meine Frau Claudine, «immer bleibt alles an mir hängen.»
«Kinder …»
«Wir sind keine Kinder mehr!»
«Okay, wollt ihr Cola?», fragte Claudine.
«Ja», war die einhellige Antwort. «Ist eh besser als Rimuss», meinte die Jüngste.
Die Auftaktwallung legte sich, als unsere Mutter, mit Einkaufstaschen voller Geschenke bepackt, eintrat.
Claudine nutzte die kinderlosen zwei Minuten geschickt, um die Erwachsenen um den festlich gedeckten Tisch zu platzieren, sodass teenagerseits schon gar kein Gequengel aufkommen konnte, wer neben wem sitzen sollte und wollte.
Unterdessen trug ich die bereitgestellten Vorspeisen auf, schenkte Wein ein, eröffnete die Tafel und war zufrieden, dass sich alle über die Speisen hermachten, und irgendwelchen belanglosen Blödsinn schwatzten.
Der Hauptgang folgte nahtlos auf die Vorspeise, Wein wurde nachgeschenkt, die Mundwerke waren mit Beissen und Kauen beschäftigt. Die Orchestrierung stimmte, die Kids erhielten zwischen Hauptgang und Dessert ihre elektronischen Gadgets, die Erwachsenen ihre Kleinigkeiten und die Mutter das, auf das sie das ganze Jahr hingearbeitet hatte.
Die Nachspeise fand Anklang. Die Kids löffelten mit starrem Blick auf ihre Bildschirme achtlos Mousse au Chocolat in sich hinein, die Schwägerin herrschte Martin an, auch mal zu befehlen, die Dinger wegzulegen, was dieser mit wenig Erfolg tat, worauf sich meine Mutter anerbot, die Teenager nachhause zu bringen, da sie sowieso noch in die Mitternachtsmesse wolle und wohl wie jedes Jahr niemand mitkäme.
Als Mutter und Kinder draussen waren, die Tür ins Schloss fiel, nahm die Schwägerin flugs die Rimussgeschichte wieder auf, um ihr Leid zu klagen. Es sei immer so, Martin kümmere sich nie um die Kinder, alles bleibe an ihr hängen. «Ist er übers Wochenende zuhause, verbringt er 24 Stunden vor dem Computer. Seit der Geburt sind ihm die Kinder eine Last. Ja, stolz Ferienfotos herumzeigen, das kann er, aber mit ihnen etwas machen, einen Ausflug unternehmen, auch mal ein Brettspiel oder so; das ist dem Herrn zu viel», redete sie sich in Rage.
«Aber er arbeitet doch in Zürich, täglich je anderthalb Stunden hin und zurück», versuchte ich, einem alten Reflex folgend, Martin in Schutz zu nehmen.
«Ich kann es nicht mehr hören», bellte die Schwägerin über den Tisch, «Zürich, Zürich, der Arme, täglich zweihundert Kilometer hin und her. Aber weisst du was? Während der ganzen zweihundert Kilometer spricht er; im Büro spricht er, während des Mittagessens spricht er – aber zuhause spricht er nicht: Nicht mit mir, nicht mit den Kindern. Wir sind nur lästig.»
Martin nahm einen Schluck Wein, schaute verlegen in sich hinein und sagte nichts.
«Siehst du, er sagt nichts. Ich rede an eine Wand. Könnte auch mit meinem Spiegel reden. Schau ihn doch an. Jetzt hat er genug intus, da schweigt er. Oder er schläft ein, ob zuhause oder auf Besuch. Siehst du? Du, ich habe es so satt. Ich kann und will nicht, nein, so einfach nicht mehr.»
«Ja, aber das Geld nimmst du», tappte ich vollends in die «Für-meinen-Bruder-Reden-Falle».
«Das kann ich schon gar nicht mehr hören. Schon gar nicht von dir.»
«So, aber wer braucht denn die Designer-Jeans, die Louis-Vuitton-Taschen, den Porsche – ‹damit fühle ich mich einfach sicherer, wenn ich in Ascona vorfahre› – deine Worte meine Liebe, deine Worte. Und den Schmuck, die Hunde und all den Plunder? Und wer bezahlt das alles, was Madame so braucht?»
«Jetzt hast du mich beleidigt», sagte die Schwägerin leise.
«Beleidigt? Ich hab dir gesagt, wie es ist. Ich habe dich selbst zitiert. Wenn schon, hast du dich selbst beleidigt!»
«Du hast mich beleidigt, verdammt nochmal. Er hat mich beleidigt, hast du gehört? Oder hörst du nach der zweiten Flasche Wein gar nichts mehr?», wandte sie sich an Martin. Der rutschte als Antwort von der einen auf die andere Hinterbacke.
«Ich sags euch ja, da kommt nichts. Und du», zeigte sie auf mich, «hör auf, für deinen Bruder zu reden.»
«Ich rede für mich und nicht für ihn.»
Martin schälte sich aus dem Stuhl und ging auf die Toilette.
«Willst du noch Kaffee?», versuchte Claudine den Moment zu nutzen.
«Ja, danke. Du, die Guetzli sind wirklich gut», antwortete die Schwägerin.
«Ich Trottel», dachte ich, «ich rede mich für meinen Bruder wund.» Dann nahm sie das Gespräch wieder auf. Es entgleiste vollends. Und irgendwann, kurz bevor der Kübel derart mit Gemeinheiten voll war, so, dass an eine nächste gemeinsame Weihnachtsfeier kaum mehr zu denken gewesen wäre, kündete ihr Smartphone eine SMS an. Verstohlen las sie die Nachricht unter dem Tisch, stand auf und meinte, es sei Zeit zu gehen. Martin kam aus der Toilette, sie zogen ihre Mäntel an, verabschiedeten sich mit einem «Das-nächste-Jahr-wieder-bei-euch», bedankten sich artig für alles und verschwanden in die Nacht.
Zwei Wochen später fragte ich Martin, was er ihr eigentlich geschrieben habe. «Es ist Weihnachten», war seine Antwort.
Patrick Tschan
Der 1962 geborene Autor studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. Er war viele Jahre in der Werbung tätig, liess sich zum Coach und Moderator ausbilden. Heute ist er für die Kommunikation der GGG Basel (Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige, Basel) zuständig. Sein zweiter Roman «Polarrot» erschien im September. Patrick Tschan lebt in Allschwil BL.