Jeder hat schon seine Wohnung entrümpelt. Man stösst dabei beständig auf Gegenstände, die Erinnerungen hervorrufen. Man fragt sich, ob dieses oder jenes Ding in Zukunft nützlich sein könnte und ob es einen Wert besitzt. Natürlich kann man auch radikal aufräumen. Diese Freiheit kann erlösend sein. Aber sie hinterlässt oft auch Leerstellen. Was habe ich preisgegeben? Habe ich das Falsche entsorgt? Und vielleicht stellt sich gar die Frage, ob das zu Erwartende besser ist als das Bestehende.
Noch komplizierter ist die Räumung von alten Häusern, die nahen Verwandten gehörten. Was macht man mit den Ölgemälden von Onkel Robert, der zwar leidenschaftlich malte, aber wenig Talent besass? Was tun mit dem Hochzeitskleid und dem Goldschmuck von Tante Lina? Und das wunderbare Geschirr, die Fotoalben oder die Liebesbriefe von früher? Übernimmt sie jemand aus der Familie, oder gehören sie in die Kehrichtverbrennung, ins Brockenhaus oder auf eine Versteigerung?
Das gemeinschaftliche Erbe
Es gibt aber nicht nur das private Erbe, sondern auch eines der gesamten Gesellschaft: kulturelle Zeugnisse oder Traditionen, die einen Beitrag an die Identität leisten, Spuren sichtbar machen und bisweilen auch Überliefertes hinterfragen lassen. Natürlich, da gibt es die absoluten Highlights, die in Quizsendungen oder Kreuzworträtseln abgefragt werden – die Berner Altstadt, die Escalade in Genf, die Basler Fasnacht, den Bundesbrief von 1291 oder die Skulpturen von Alberto Giacometti.
Das gemeinschaftliche kulturelle Erbe umfasst aber viel mehr. Es hängt von der Wahrnehmung und vom Verständnis des Einzelnen ab. Was gibt mir Vertrautheit, wenn ich aus den eigenen vier Wänden hinaus ins Freie trete? Es kann der Duft einer alten Linde sein, eine Wiese mit knorrigen Apfelbäumen, ein vertrautes Geräusch oder eine Häuserzeile, an der ich täglich vorbeispaziere. Wie beschreibe ich die Besonderheiten meiner Stadt, meines Dorfes, also meines direkten Lebensumfeldes? Vielleicht ist es ein Feiertag oder ein Fest, die stolze Kirche auf dem Hügel oder der lebendige Ortskern mit seinen Läden und Beizen.
Aufräumen und Bewahren auf 41 000 Quadratkilometern
Wenn man so will, gleichen die 41 000 Quadratkilometer der Schweiz einem altehrwürdigen Haus. Vielleicht ist es nicht dasjenige von Onkel Robert und Tante Lina. Aber sicherlich ist es vergleichbar mit der Wohnung der eigenen Eltern. Ob man es will oder nicht: Man wird in einen Raum und ein gesellschaftliches und soziales Gefüge hineingeboren. Diese sind geprägt von den Vorstellungen, Wünschen und Werten früherer Generationen. Man kann sich am Vorhandenen reiben, man kann etwas über seine Herkunft lernen – aber schadlos ignorieren, das klappt nur beschränkt.
Im Haus namens «Schweiz» leben heute in einer Wohngemeinschaft rund 8,5 Millionen Menschen. Sie alle haben eigene und unterschiedliche Vorstellungen, wie dieses Gebäude, seine Räume und die Hausregeln aussehen sollten. Die einen wollen möglichst viel historische Möbel und Kunst an den Wänden, die anderen mehr Spielraum für Neues; einige wollen vielleicht mehr Parkplätze vor dem Haus, während sich andere um die alten Hecken und die Vögel sorgen, die damit verloren gehen.
Vom wachsenden und schrumpfenden Erbe
Im Gegensatz zu Wohn- oder Erbengemeinschaften verfügen der Bund und die Kantone über Regierungen, Parlamente und Gesetze. Diese machen Vorgaben, was es im Auftrag der Allgemeinheit zu erhalten, zu pflegen und zu gestalten gilt. Die eingegangenen Pflichten sind eindrücklich. Die Bestände im Staatsarchiv des Kantons Zürich wachsen jedes Jahr um rund 1000 Laufmeter. Die Zentralbibliothek Zürich hat zu den bestehenden 6,5 Millionen Büchern und Zeitschriftenbänden letztes Jahr weitere rund 100 000 Werke neu angeschafft. Und das Naturhistorische Museum in Genf nennt atemberaubende 15 Millionen Objekte sein Eigen.
Während in den Archiven und Bibliotheken die Bestände anwachsen, lässt sich ausserhalb dieser geschlossenen Räume eine Schrumpfung des Kulturerbes feststellen. Die Schweizer Stimmberechtigten haben 2013 erfreulicherweise beschlossen, dass der Zersiedelung Einhalt geboten werden soll. Die bauliche Entwicklung muss nun dort stattfinden, wo bereits Bauland besteht. Es gilt, bis 2040 Wohnraum für über eine Million Menschen mehr zu schaffen. Das bedeutet konkret, dass in den nächsten 20 Jahren in Städten wie Zürich oder Genf jedes vierte Gebäude abgerissen und neu gebaut werden müsste. Es bleibt zu hoffen, dass das Richtige getan wird. Die Vorzeichen sind indes nicht gerade erfreulich: Der Kanton Bern hat bereits 2016 vorgesorgt und angeordnet, dass rasch ein Drittel der heute geschützten und erhaltenswerten Gebäude aus seinen Inventaren entlassen werden muss.
Die Diskussion gehört lanciert
Das Wachsen und Schrumpfen gehören zum Kulturerbe. Es steht im direkten Zusammenhang mit dem Interesse der Gesellschaft am Wert des Vorhandenen. Die Bewertung, was denn überhaupt das kulturelle Erbe sein soll, haben die politischen Verantwortlichen in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr den Experten überlassen. Dies hat einerseits zu einer sinnvollen Versachlichung geführt, aber andererseits die Diskussion bisweilen etwas gar akademisch gemacht.
Das Kulturerbejahr 2018 will daher nicht einfach das Erreichte feiern. Vielmehr soll diese Europäische Initiative in der Schweiz die Gelegenheit bieten, mit den Menschen darüber zu sprechen, welches kulturelle Erbe für sie wichtig ist. Dabei gilt es auch zu erklären, weshalb der Erhalt und die Pflege zwar Kosten verursachen, aber zugleich auch Mehrwerte für jeden Einzelnen, aber ebenso für die Gesellschaft als Ganzes schafft.
Kommen Sie vorbei, sprechen Sie über das Kulturerbe, oder geniessen Sie es einfach. Unter den mehr als 1000 geplanten Veranstaltungen im Kulturerbejahr 2018 wird auch ein Anlass für Sie dabei sein!
Patrick Schoeck
Der Zürcher Kunsthistoriker Patrick Schoeck (*1978) ist Präsident des Trägervereins Kulturerbejahr 2018
(#Kulturerbe2018). Hauptberuflich ist er stellvertretender Geschäftsführer des Schweizer Heimatschutzes und publiziert daneben regelmässig zu Themen an der Schnitt-
stelle zwischen Politik, Geschichte und Architektur.
Infos zu Veranstaltungen im 2018: www.kulturerbe2018.ch