Aus dem Untergrund erscheint ein grauer Lockenkopf. Der leicht ramponierte Komponist Schaunard (Jürg Kienberger) wälzt sich auf die Bühne, wringt seine nassen Socken aus und verkündet: «Die Seine trifft Paris. Die einen Lichter gehen an, die andern aus.» Der Satz stammt aus dem Drehbuch zum Film «Das Leben der Bohème» von Aki Kaurismäki, in dem sogar die Regieanweisungen eine eigene Poesie haben.
Schaunard schmückt ein Mini-Christbäumchen mit Lametta und holt sein Instrument hervor. Zögernd lässt er «Stille Nacht» erklingen. Doch lange bleibt der Komponist nicht einsam. Schon bald gesellt sich der Schriftsteller Marcel (Nicolas Rosat) zu ihm. Nachdem Schaunard festgestellt hat, dass ihn dessen Gesicht an eine geräucherte Makrele erinnere, stellen sich die beiden einander vor und stossen an auf Weihnachten. Wieder und wieder – bis die roten Weihnachtskugeln und fast auch die beiden Intellektuellen die schräg gestellte Bühne herunterrollen.
Dritter im Bunde
Es ist der Beginn einer grossen Künstler-Freundschaft, zu der bald noch der albanische Maler Rodolfo (Klaus Brömmelmeier) dazustösst. Die drei mittellosen Intellektuellen gründen eine Pariser Künstler-WG, zu der jeder so viel beiträgt, wie er kann.
Soweit die Ausgangslage zum Theaterstück «Das Leben der Bohème», das auf dem gleichnamigen Film beruht. Die deutsche Regisseurin Corinna von Rad will sich von der Lakonie und Melancholie der filmischen Vorlage zwar inspirieren lassen, aber eine eigene Version entwickeln: «Wir schälen die Stimmung aus dem Film heraus und erfinden dazu eine eigene Musik. Unsere Inszenierung soll märchenhaft, sinnlich und berührend werden.» Während im Film Schauspieler Kari Väänänen in einer Gesichts-Grossaufnahme mit einem einzigen Brauenzucken etwas aussagen kann, muss sich das Theater oft emotionalerer Mittel bedienen.
Die ursprüngliche Vorlage stammt vom Episoden-Roman «Les scènes de la vie de bohème» des Parisers Autors Henri Murger von 1851. Puccini hat daraus 1896 seine Oper «La Bohème» entwickelt. Darin steht die tragische Liebesgeschichte zwischen dem Maler Rodolfo und der schönen Mimi, die das Künstlertrio als Muse ergänzt, im Mittelpunkt. Auch in von Rads Inszenierung werden sich musikalische Anklänge an Puccinis Oper finden.
Bunte Musikmischung
Bei einem Probenbesuch ist das Theaterteam damit beschäftigt, diejenige Musik zu finden, die am besten die jeweiligen Szenen ergänzt. Die Regisseurin verspricht eine bunte Mischung zwischen Mambo, Klassik, Tanzmusik, Gesang und vielem mehr. Froh ist sie um die Mitwirkung des Multiinstrumentalisten und Kabarettisten Jürg Kienberger, der sie mit musikalischen Ideen tatkräftig unterstütze. Das Schauspielerteam ergänzen die Musiker Peter Conradin Zumthor am Schlagzeug und Daniel Sailer am Bass. Die beiden steuern nicht nur die Live-Musik bei, sondern sind als eigene Figuren Teil der chaotischen Künstler-WG.
Die Muse Mimi (Dagna Litzenberger Vinet) mischt die Männer-WG auf. Als sie schwer erkrankt, verkaufen die Künstler ihre letzten Habseligkeiten, um für sie sorgen zu können. Und auch als Rodolfo, der ohne Papiere in Paris lebt, des Landes verwiesen wird, lassen sie sich etwas einfallen. «Diese Männergemeinschaft ist etwas Spezielles. Die drei gehen trotz ihrer Armut freundlich, mit Würde und Respekt, miteinander um», sagt Corinna von Rad.
Zwischenmenschliches
Auf diese Freundschaft und auf die zuerst unmöglich erscheinende Liebesgeschichte zwischen Rodolfo und der jüngeren Mimi richtet sie in ihrer Inszenierung besonderes Augenmerk. Im Gegensatz zum Zürcher Theater Neumarkt, das sich Anfang Jahr in seiner Inszenierung von «Das Leben der Bohème» vor allem mit dem Künstlerdasein zwischen Selbstverwirklichung und Anpassung beschäftigt hat. «Es geht mir weniger um eine intellektuelle Auseinandersetzung», sagt sie. «Ich will eine Geschichte erzählen über die Einsamkeit, die Sehnsüchte, den Umgang mit der Erfolglosigkeit und das Künstlerdasein am Rande des Abgrunds.» Auf die theatralen Überraschungen dieses modernen Märchens darf man gespannt sein.
Das Leben der Bohème
Premiere: Sa, 2.11., 20.15 Schiffbau Zürich
Künstlerstudie
Der Film «Das Leben der Bohème» (1992) des finnischen Regisseurs Aki Kaurismäki ist ein funkelndes Meisterwerk voller Melancholie und Lakonie. Im Mittelpunkt stehen der französische Schriftsteller Marcel, der irische Komponist Schaunard und der albanische Maler Rodolfo. Die drei erfolglosen Künstler lernen sich in Paris kennen und schlagen sich mit Einfallsreichtum zusammen durch. So muss etwa Rodolfos Hund Baudelaire seinen Hundeknochen für eine Suppe abtreten, damit Rodolfo seine Liebste Mimi mit einem romantischen Diner verführen kann. Wenn einer der drei zu Geld kommt, wird es gemeinsam bei Speis und Trank verprasst.
Kaurismäkis Tragikomödie ist in schlichten, klaren Schwarz-Weiss-Bildern gehalten und besticht durch skurrilen Humor: Die drei Künstler nehmen ihr Schicksal meist stoisch und mit unbewegter Mine hin.