Signora A. ist starrköpfig, hat ihre Marotten – und altmodische Ansichten dazu. Die Kinderfrau hat aber vor allem ein grosses Herz, sie ist «ein fester Halt, eine Zuflucht, ein alter Baum mit so dickem Stamm, dass drei Paar Arme nicht ausreichen, ihn zu umfassen», wie der Ich-Erzähler in Paolo Giordanos Roman sagt. Als dieser Baum zu Wanken beginnt, gerät die Welt des namenlosen Ich-Erzählers, seiner Frau Nora und seines Sohns Emanuele aus den Fugen. Denn Signora A. leidet, auch wenn sie es lange nicht wahrhaben will, an unheilbarem Lungenkrebs.
Schmerzliche Absenz
Der Roman beginnt mit ihrem Tod, dem Verlust der geliebten Kinderfrau, der jahrelangen Begleiterin und Stütze für die kleine Familie aus Turin. In Rückblenden berichtet der 35-jährige Ich-Erzähler, wie die Signora A. in sein Leben und das seiner Frau trat, wie sie ihnen vor der Geburt ihres Kindes eine Hilfe war und später für den kleinen Emanuele zu einer Ersatz-Grossmutter wurde. Ihre bis zur Erkrankung unerschütterliche Ruhe tut dem Paar, das mit Neurosen und Enttäuschungen zu kämpfen hat, gut.
Den langsamen, aber sicheren Zerfall der Signora A. sieht der Ich-Erzähler, ein Physiker, aus rationaler Sicht. Die Frage «Warum?» erlaubt er sich nicht: «Ihr Tumor fällt unter eine Statistik, vielleicht in den vernachlässigten Auslauf einer gaussschen Wahrscheinlichkeits-Kurve, bewegt sich aber stets innerhalb der natürlichen Ordnung.» Die nüchterne Erklärung täuscht aber nicht über den Schmerz hinweg, den er über den Verlust empfindet. Denn durch das plötzliche Ausbleiben der Signora A. im familiären Alltag geraten auch ihre Paarbeziehung und die fragile Familienstruktur durcheinander. «Ohne ihren Blick fühlten wir uns gefährdet», sagt er. Die Liebe und sogar die Verbindung zum Sohn verändern sich durch die Absenz der Signora A. Ihre Beziehungen zueinander müssen neu überdacht werden. Lange sieht es so aus, als ob die Familie nach dem Tod der Kinderfrau nicht mehr zueinanderfinden könnte.
Zerfall und Hoffnung
Der 33-jährige italienische Autor Paolo Giordano ist selbst Physiker, die nüchterne Herangehensweise seines Protagonisten kennt er aus eigener Erfahrung. Vertraut ist ihm offenbar auch die Krankheitsgeschichte: «Dies ist das Fragment einer wahren und leidvollen Geschichte in literarischer Verarbeitung», heisst es im Prolog. Dennoch gerät sein Roman nicht zur rührseligen Tragödie. Der brutale Zerfall des Körpers durch Krebs wird von ihm genauso geschildert, wie die immer wieder aufkeimende Hoffnung. «Alle gleich, die Krebskrankengeschichten», lässt der abgebrühte Psychotherapeut des Ich-Erzählers verlauten. Giordano löst seine Signora A. aus dieser Anonymität heraus, gibt ihr eine individuelle Geschichte. Mit Feingefühl schildert der Schriftsteller, was ein solcher Verlust bei den Nächsten auslösen und wie anfällig das emotionale Gleichgewicht in einer Familie sein kann.
Mit seinem Debütroman «Die Einsamkeit der Primzahlen» (2008) hat der Autor mit 26 Jahren einen Bestseller gelandet, der verfilmt wurde. Darin verschränkt er wie im neuen Roman mathematische Überlegungen mit Seelenzuständen.
Der Körper als Thema
Auch der Umgang des Menschen mit dem eigenen Körper zieht sich durch sein Werk. Während es im ersten Roman unter anderem um die Selbstverletzungen zweier junger Menschen geht, kreist sein zweiter Roman «Der menschliche Körper» um Soldaten in Afghanistan und die körperlichen Auswirkungen des Kriegs.
«Schwarz und Silber» nähert sich der Körperlichkeit nochmals von einer anderen Seite. Bereits der Titel verweist auf die Thematik: Er bezieht sich auf die antike Vier-Säfte-Lehre, nach der verschiedene Säfte durch den Körper fliessen. Während der Ich-Erzähler sich als Melancholiker der schwarzen Galle zuordnet, setzt er seine lebensfrohere Frau mit geschmolzenem Silber in Verbindung – eine Metapher für das Ungleichgewicht der Temperamente, das in ihrer Beziehung besteht.
Buch
Paolo Giordano
«Schwarz und Silber»
176 Seiten, aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
(Rowohlt 2015).