kulturtipp: Paavo Järvi, Ihr Vater war Chefdirigent in Genf, er arbeitete – wie Ihr Bruder – in Gstaad. Ihre Schwester wohnt in Genf, Sie selbst sind bald in Zürich. Ihre Familie scheint die Schweiz zu lieben.
Paavo Järvi: Ich fand die Schweiz immer ein schönes Land. Aber ich dirigierte nur am Verbier Festival regelmässig. Hinzu kam die eine oder andere Tournee im Rahmen der Migros Classics – und zwei Mal dirigierte ich das Tonhalle-Orchester.
Mit Folgen! Was dachten Sie über die Zürcher, bevor Sie im Januar 2017 zum zweiten Mal mit ihnen arbeiteten?
Ich bin am Puls der musikalischen Welt. Seit 30 Jahren nehme ich sehr genau wahr, was da passiert. Die Aufnahmen des Tonhalle-Orchesters habe ich mitverfolgt, vor allem jene der Beethoven-Sinfonien. Ich wusste immer, dass es ein gutes Orchester ist, aber es ist wohl nicht so gut repräsentiert wie etwa das Concertgebouw Amsterdam. Das liegt nicht an der Qualität. Denn als ich mit dem Orchester im Januar Schumann spielte, war ich überrascht, wie offen diese Musiker waren. Es ging nicht darum, ob dies recht oder jenes falsch sei, ob alles präzise war oder nicht. Das ist zwar wichtig – klar, aber nicht das Entscheidende: Diese Musiker wollten etwas anderes finden, sie wollten zum Kern vordringen. Man muss in der Musik eine innere Welt finden – genau das wollten die Zürcher. Wir konnten Musik machen ohne Akademismus. Das Fundament ist sehr stark.
Einst sagten Sie, dass jedes Orchester, bei dem sie als Chefdirigent wirkten, besser wurde: Bremen, Cincinnati, Frankfurt, Paris, Japan. Kann ein «besseres Tonhalle-Orchester» genauso gut wie das Concertgebouw Orchester Amsterdam sein?
Ich würde nicht sagen genauso gut, aber ebenso bekannt.
Könnten die Zürcher dereinst unter den Top Ten der bekanntesten Orchester figurieren?
Sie werden – das ist gar keine Frage. Wir haben eine Vision, wir werden unser Ziel erreichen. Wir müssen gross und langfristig denken: Dafür muss jedes Puzzlestück stimmen. Es geht nicht nur ums Spielen, sondern auch ums Präsentieren.
Was wird künftig anders sein?
Es gibt wenige Orte auf der Welt mit einer dermassen perfekten Kombination – ab 2020 einen grossartigen Saal und ein tolles Orchester mit einem starken Namen. Gewandhaus, Concertgebouw, Tonhalle! Und wir sind im Zentrum von Europa. Zürich bietet alle Grundsteine für den Erfolg. Daraus müssen wir etwas schaffen. Ich sage nicht, das Orchester war vorher nicht gut. Aber erst, wenn man ein Bild restauriert, kann man es in neuen Farben sehen.
Ist 2019 ein guter Zeitpunkt, um in Zürich zu starten?
Es ist egal, was vorher war, und auch die Saison in der Maag-Halle ist nicht schlimm: Wir können uns dort kennenlernen und dann den Fokus auf die Wiedereröffnung des Tonhalle-Saals legen. Das mediale Bild und die Tourneen sind wichtig. Ich würde es jedenfalls lieben, mit einem deutschen, klassisch-romantischen Repertoire eine starke Identifikation für dieses Orchester zu schaffen. Das Tonhalle-Orchester könnte einer der überzeugendsten Klangkörper für Schumann, Brahms oder Schubert werden.
Sie haben zahlreiche Alben eingespielt, und auch das Tonhalle-Orchester ist auf dem Markt sehr präsent. Wäre es nicht an der Zeit, bald 25 Jahre nach der berühmten Zinman-Aufnahme, ein neues Beethoven-Bild zu kreieren?
Nein, mit Beethoven beginnen wir nicht. Wir werden Beethoven im Konzertsaal spielen, aber was CDs angeht, will ich mit etwas anderem starten, auch ein wenig von diesem «Gesamtaufnahme»-Denken wegkommen.
Es bleibt nicht so viel neben dem von Zinman dirigierten Repertoire.
Das ist in Ordnung, es braucht eine Kontinuität, dieses Repertoire ist in der DNA des Orchesters. Wir starten von einem hohen Punkt aus. Meine Strategie war nie, etwas zu zerstören und neu aufzusetzen. Ich will auf eine Tradition bauen. Wenn einer nach Amsterdam geht, dann zerstört er doch nicht das Mahler-Bild dort, dann baut er daran weiter. Ein grosses Orchester trägt die Verantwortung, ein Zentralrepertoire zu erschaffen. Und dann strategisch zu schauen, was die Nische sein könnte.
Die Erwartungen in Sie sind in Zürich sehr gross. Die Auslastung ist nicht glänzend, die Abonnentenzahlen nehmen ab.
Ich bin kein Politiker, der dieses und jenes verspricht – und nach der Wahl ist alles vergessen. Das Wichtigste ist, dass wir uns im Musikalischen verstehen. Wenn das nicht klappt, wird alle PR nichts nützen. Das Orchester ist berühmt, ein paar Leute kennen auch mich. Ich bin optimistisch. Aber ich komme nicht mit dem Slogan «Make Tonhalle great again» – es wird eine Entwicklung brauchen.
Konzert
Paavo Järvi und Estonian
Festival Orchestra
Sa, 20.1., 18.30
Tonhalle Maag Zürich
CDs
Schostakowitsch
Sinfonie 6, Sinfonietta op. 110 Estnisches Festival Orchester geleitet
von Paavo Järvi
(Alpha Classics 2017).
Erkki-Sven Tüür
Sinfonie No. 7, Klavierkonzert HR-Sinfonieorchester geleitet von Paavo Järvi
(ECM 2014).