Drei Frauen stehen oben an der Treppe. Fragend blicken sie jedem entgegen, der, bepackt oder nicht, dem dunkel-feuchten Untergrund entsteigt. Gleis 17 nach Strausberg, Müncheberg, Küstrin-Kietz. Übrig vom Glanz der alten Preussischen Ostbahn, die einst Deutschlands Künstlerelite in die Königsberger Sommerfrische an der Kurischen Nehrung brachte, ist nichts als ein gelb-blauer Stummelzug, dessen Fahrt an der polnischen Grenze endet.
Ich schüttle den Kopf, ich fahre nicht bis zur Endstation. Sooft ich hier ankomme, stehen sie an der Treppe, die polnischen Frauen, die nach Berlin zum Putzen pendeln, zum Kinder hüten oder Alten pflegen. Vier Mitreisende suchen sie sich zusammen, weil das Brandenburgticket, gedacht für Ausflüge mit Familie oder Freunden, fünf Personen günstigere Fahrten verspricht. Der Zug ist noch nicht da. Ich setze mich auf die Bank, drehe mir eine Zigarette. Rauchen ist hier, wie auf allen Bahnhöfen Deutschlands, verboten. Kaum jemand hält sich daran. Schliesslich stehen wir auf einer gut durchlüfteten Plattform, von hinten bis vorne offen, die Wartenden bieten Wind und Regen tapfer Paroli, fröre man, gäbe es nicht den winzigsten Winkel, in den man sich verkriechen könnte. Wie ein letzter Zahn thront das Dispatcherhäuschen in der Mitte des Steigs, bräunlich verspiegelte Scheiben lassen nicht erkennen, ob darin überhaupt noch jemand Sorge trägt für das Gelingen des Verkehrs auf diesen Schienen. Berlin-Lichtenberg. Jahr für Jahr wird der Bahnhof weniger. In der Halle ein KIK-Textilmarkt, ein Mc Donalds, ein Kiosk, ein Norma-Discounter, eine Volksbank und die Filiale einer Drogeriemarktkette. Vor der Halle warten ein Taxi und mehrere Polizeiautos.
Lichtenberg ist das East End Berlins. Ein ungeöltes knarzendes Scharnier zwischen Ost und West. Lichtenberg war vor der Wende der Ort der Stasi, heute der Ort der Megaeinkaufscenter und Autohäuser. Und, als wolle man überhaupt den Osten von der Hauptstadt fernhalten, enden die Regionalbahnen aus dieser Gegend alle in Lichtenberg.
Vor drei Stunden war ich noch in der Schweiz, Flughafen Zürich Kloten, der Kaffee fünffrankenneunzig. Die Frauen haben mittlerweile ihre Grüppchen beisammen. Wie Lehrerinnen ihre Klassen, scharen sie die viere um sich, lassen keinen mehr aus den Augen. Komme ich nach einer Reise in Lichtenberg an, sitze endlich auf einer der grau gestrichenen Eisenbänke oder schlendere den Bahnsteig entlang, erfasst mich zuverlässig jene bizarre Melancholie der Hässlichkeit, die nur empfinden kann, wer bald weiterreist. Direkt vor meinen Schuhen müht sich ein schimmernd grüner Käfer über den Boden, fein federn seine langen Fühler, ertasten krautig spriessende Spitzen zwischen gebrochenem Beton, geschickt weicht er den Hindernissen aus.
Fast scheint es, als gäbe es ab hier nichts mehr zu verpassen.
Der Zug fährt ein, dicht an dicht am Gleis stehen die Menschen. Buntes Palaver, Lachen, manchmal ein rauer Fluch dazwischen. Eine schmale Gasse öffnet sich, um die Aussteigenden durchzulassen, geschwind dann, ist jeder Platz besetzt.
Die Oderlandbahn gleitet hinaus aus der Stadt. Neben mir sitzt ein Paar. Beide halten ihre Taschen eng umschlungen auf dem Schoss. Sie geben sich keine Mühe, ihr Unbehagen zu verbergen. Hin und her wandern die Frauen, bleiben mal hier stehen, mal dort. Geld wird gesammelt, gezählt, eingesteckt, Gepäck unter Sitze gewuchtet. Scheel, als werde sein Geld von polnischen Händen eingesteckt, folgt der Blick des Mannes dem Treiben, die Frau zieht jetzt auch den Koffer näher ran und lässt ihn nicht mehr los. Unterwegs: Hoppegarten/Mark. Vor ein paar Wochen wurde hier ein weisser Sprinter von einem Firmengelände gestohlen. Im Laderaum zwölf Leichen, kein Scherz. Eng geschichtet in einfachen Kisten warteten sie auf den Abtransport in ein sächsisches Krematorium. Dass ihre Toten in einem Sprinter draussen auf dem Parkplatz übernachten mussten, haben die Angehörigen durch diesen Coup ganz zufällig erfahren. Man fand die Särge in einem Waldstück jenseits der Grenze, fein säuberlich gestapelt.
Was machen die denn da?, fragt die Frau ihren Mann laut. Der Mann zuckt die Schultern und blickt mich an.
Wirklichkeit stellt Vorurteil in den Schatten, war kürzlich als Headline in einer Zeitung zu lesen. Die jungen Frauen im Abteil nebenan vergleichen offenherzig ihre Lohnabrechnungen. Weil sie für Einbrecher gehalten wurden, hat der Dorfmob in Kremmen zwei polnische Erntehelfer gejagt, gefangen und krankenhausreif geprügelt.
Hinter Strausberg, als die Fahrscheine endlich kontrolliert sind, schnappt sich der Zugbegleiter die Kaffeekanne, ein Plastikkörbchen mit Plastikbechern, Plastiklöffeln, Milch und Zucker. Wünscht jemand einen Kaffee?, fragt er, nur auf Deutsch. Die Frau neben mir kräuselt die Lippen, der Mann lächelt flach. Die andern Fahrgäste machen von dem Angebot rege Gebrauch, der Kaffee ist dünn und kostet achtzig Cent pro Becher.
In Müncheberg steige ich aus, die letzten paar Kilometer bringt mich der Bus. In der Nachbarswohnung wird geputzt, wie jeden Montag, nachdem eine Berliner Familie das Wochenende in der ländlichen Stille verbracht hat. Aus dem Fenster winkt Frau Kovacs, wieder da?, fragt sie. Ich winke zurück, ja, wieder da!
Ursula Fricker
Ursula Fricker ist 1965 in Schaffhausen geboren und lebt heute als freie Autorin in der Nähe von Berlin. Ihr vielbeachtetes Debüt «Fliehende Wasser» wurde 2004 mit dem Einzelwerkspreis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet. 2009 erschien ihr zweiter Roman «Das letzte Bild», 2012 das dritte Werk, das auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises stand.