Zu Vaterfiguren hat der Protagonist Cem zeitlebens ein ambivalentes Verhältnis: Er erhofft sich Schutz und Anerkennung von ihnen, gleichzeitig fühlt er sich eingeengt und will sich von ihrer Übermacht befreien. Den eigenen Vater bekommt Cem fast nie zu Gesicht. Der Marxist sitzt nach dem Militärputsch 1980 im Gefängnis, später verlässt er die Familie wegen einer anderen Frau.
So wird der Brunnenbauer Mahmut, bei dem der 16-jährige Cem in den 80er-Jahren einen Sommer lang in einem Vorort von Istanbul arbeitet, zu einem Vaterersatz. Meister Mahmut erzählt ihm Geschichten, führt ihn in die Kunst des Brunnenbaus ein, sorgt sich um ihn, erwartet aber auch absoluten Gehorsam.
Die Schuld nagt an ihm
Als Cem eines Abends im Dorf eine schöne, rothaarige Frau erblickt, ist es um ihn geschehen. Die verheiratete Schauspielerin einer Wander-Theatertruppe, die vom Alter her fast seine Mutter sein könnte, geht ihm nicht mehr aus dem Kopf – tatsächlich verbringt er mit ihr seine erste Liebesnacht. Nach diesem einschneidenden Erlebnis kann er sich bei der Arbeit nicht mehr konzentrieren, und ein tragisches Unglück nimmt seinen Lauf. Cem flieht Hals über Kopf zurück zu seiner Mutter nach Istanbul.
Der zweite Teil setzt Jahre später ein. Cem ist ein erfolgreicher Bauunternehmer geworden und führt mit Ayse eine ungewollt kinderlose, doch recht glückliche Ehe. Die Schuld an der Tragödie in seiner Jugend aber nagt an ihm, auch wenn er sie zu verdrängen versucht. Fast obsessiv beschäftigt er sich mit dem griechischen Mythos von Ödipus, der unwissentlich mit seiner Mutter schläft und seinen Vater tötet. Im persischen Epos «Schahname» findet er eine Geschichte mit umgekehrten Verhältnissen: Darin tötet der Held Rostam auf dem Schlachtfeld nichtsahnend seinen Sohn Sohrab – und weint danach bitterlich um den Verlust. So unabwendbar wie das Schicksal in den beiden Mythen die Literatur, Malerei und Film beeinflusst haben, ist schliesslich Cems eigenes Schicksal, das ihn an den Ort seiner Jugendsünde zurückführt …
Zwischen Tradition und Moderne
Der türkische Autor Orhan Pamuk erzählt in seinem neuen Roman eine packende Geschichte rund um Schuld und Sühne sowie die Rolle der Väter in einer patriarchalen Gesellschaft. «An Vätern mangelt es nicht in diesem Land. Vater Staat. Gottvater. Die Generäle spielen sich als Väter auf, und sogar die Mafia. Ohne Vater kann hier keiner leben», sagt etwa Cems rothaarige Geliebte. Pamuk zeichnet sie als unabhängige, mutige Frau, die ihren Weg geht.
Pamuks Erzählstil ist im neuen Werk schnörkelloser und weniger verschachtelt als in einigen seiner anderen Romane. Er gestaltet den ersten Teil stimmungsvoll, erzählt von Cems jugendlichen Zweifeln und Ängsten, dem brütend heissen Sommer auf dem Land, in dem der Junge nebst dem Brunnenbau in andere Geheimnisse des Lebens eingeweiht wird.
Der zweite Teil hingegen ist trockener, aber reflektierter, steht im Zeichen von Cems manischem Interesse an Vater-Sohn-Mythen. Darin übt Pamuk, der 2006 wie andere Schriftsteller wegen «öffentlicher Herabsetzung des Türkentums» angeklagt war, subtil Kritik an gegenwärtigen Verhältnissen in Istanbul. Das Buch kann auch als Parabel auf den übermächtigen Staat gelesen werden. Der Autor beschreibt das Spannungsverhältnis seiner Heimatstadt zwischen Tradition und Moderne, Okzident und Orient. Und er erzählt, wie die Vororte der Metropole durch die ausufernde, teils illegale Bautätigkeit und die Ausbeutung der Natur zu «gesichtslosen Betonvierteln» geworden sind.
Der dritte, kürzeste Teil schliesslich beleuchtet die weibliche Sicht der rothaarigen Frau und lässt die Erzählperspektive des ganzen Romans in einem anderen Licht erscheinen. Vor allem zeigt er, wie unaufhaltsam Cem seinem Schicksal entgegenrast.
Buch
Orhan Pamuk
Die rothaarige Frau
288 Seiten
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier
(Hanser Verlag 2017).