Zehn Tage noch bis zur Premiere, und Beate Vollack hat manches zu bedenken. Sie bereitet mit «Orfeo ed Euridice» von Christoph Willibald Gluck am Theater St. Gallen gerade ihr drittes Tanzstück im Grossen Haus vor. Die Geschichte handelt vom liebenden Orfeo, der seine Euridice mit seinem Gesang aus der Unterwelt befreien darf, wenn er sich nicht nach ihr umsieht. Sie versteht seine Abwendung als Liebesverlust, was Orfeo derart berührt, dass er sie doch ansieht – das Unglück ist geschehen.
Das Herzensstück der Macherin
An der Premiere wird Vollack das Orchester zur Verfügung haben und den Chor. Heute allerdings steht vorne nur der Dirigent George Petrou; am Klavier sitzt Roberto Forno und singt tapfer mit, was der Chor zu singen hätte. Die von Bühnenbildner Kinsun Chan raffiniert nach oben gezogene Bühne präsentiert sich in schwarz, die Tänzer anfangs auch. In ihrer Mitte Orfeo: der Countertenor Xavier Sabata, der nicht nur eine schöne Stimme hat, sondern auche eine starke Ausstrahlung.
«Glucks ‹Orfeo ed Euridice› ist ein Herzensstück von mir», sagt Beate Vollack, die für Inszenierung und Choreografie verantwortlich zeichnet. Sie lacht während der Probe oft, pendelt voller Energie zwischen Bühne und Zuschauerraum hin und her. «Ich habe das Stück früher selber getanzt, das schafft eine starke Beziehung», sagt sie. Und: «Ausserdem haben barocke Opern einen grossen Tanzanteil, sodass sie sich gut in eine tänzerische Fassung verwandeln lassen – zumal in der Kombination zweier unterschiedlicher Fassungen, die wir verwenden.»
Der Mensch als Wesen mit freiem Willen
Anfangs allerdings hat Vollack es mehr als Hindernis empfunden, dass sie den «Orfeo» so gut kennt. «Zu Beginn war die grosse Freude über die Musik. Aber immer, wenn ich sie angestellt habe, kam mir sofort die Münchner Fassung in den Kopf.» Also musste sie einen Abnabelungsprozess durchlaufen, musste nochmals aufs Stück schauen, sich darüber klar werden, was sie mit ihrer Inszenierung sagen will.
«So kam ich auf meine eigene Geschichte. Mein ‹Orfeo› ist ein Experiment der Götter an den Menschen – bis er entscheidet: Nein, ich drehe mich um. Ich bin ein Mensch, ich habe einen eigenen, freien Willen.» Orfeo ist es bei diesem Ansatz wichtig, dass Euridice weiss, dass er sie liebt, selbst wenn er sie dabei verliert: «Da leert sich auch die Bühne bis auf die zwei, um die es geht.»
Kinsun Chans entworfene Szenerie schafft eine Art magischen Raum. Hier stirbt Euridice, im Tanz verkörpert von Cecilia Wretemark, und wird von den andern Tänzerinnen und Tänzern betrauert. Der verzweifelte Orfeo begehrt Einlass in die Unterwelt, findet seine Geliebte wieder. Er nimmt sie mit – und verliert sie wieder, weil er sie verbotenerweise anschaut. Doch Amor hilft; als Sängerin verkörpert von Sheida Damghani und getanzt von David Schwindling. Doch Gluck schafft das Happy End.
Das Farbenspiel der ebenfalls von Kinsun Chan entworfenen Kostüme passt sich den Schauplätzen spielerisch an. Noch während sie tanzen, entledigen sich die Tänzer ihrer schwarzen Kleider und werden nach und nach rot, sind jetzt die Furien – und später, mit weissen Röcken auch für die Männer, die seligen Geister.
Definitiv in St. Gallen angekommen
Beate Vollack kennt die in letzter Sekunde auftauchenden Schwierigkeiten aus ihrer langen Laufbahn als Tänzerin und Choreografin. 1986 hat die gebürtige Berlinerin ihr erstes festes Engagement an der Komischen Oper Berlin angetreten. 2000 hat sie sich zur Ballettpädagogin ausbilden lassen und ist seither als Choreografin tätig. Zur Saison 2014/15 ist sie als Tanzchefin ans Theater St. Gallen gekommen.
Vorher allerdings hatte sie dort noch einen ersten starken Auftritt: In der von Regisseurin Amilcare Ponchielli in die Nazizeit verlegten Oper «La Gioconda» hat sie getanzt – mit nacktem Oberkörper und Offiziersmütze. Einige Buhrufe an der Premiere und viel Applaus in den nachfolgenden Vorstellungen waren die Reaktionen.
Schritt um Schritt Neues wagen
Seither hat das Publikum die Frau mit den vielen Ideen und originellen Kostümen ins Herz geschlossen – und sie im Gegenzug ihre Tänzerinnen und Tänzer, denen sie mit grosser Herzlichkeit begegnet. «Natürlich kennen wir uns mittlerweile besser», sagt sie. «Ich kann nun meine Choreografien genauer auf ihre Stärken abstimmen. So konnte ich zum Beispiel den ‹Peer Gynt› auf den Tänzer Exequiel Barreras zuschneiden.» Was, zusammen mit der Akkordeonbegleitung durch Goran Kovacevic, einen wunderbar stimmigen, berührenden Abend ergeben hat. Der, wenn man Applaus und Auslastung zum Massstab nimmt, beim Publikum sehr gut angekommen ist.
Ihre Freunde und Bekannten sagen Beate Vollack, dass sie da eine schöne Entwicklung in ihrer Arbeit sähen. «Man könne erkennen, wie ich mich mehr und mehr traue.» So will sie sich denn mit Glucks «Orfeo ed Euridice» noch etwas weiter vorwagen.
Orfeo ed Euridice
Premiere: Sa, 10.12., 19.30 Theater St. Gallen
www.theatersg.ch