Es gibt eine Trinkermaxime, die da lautet: «Wenn ich noch gehen kann, bleibe ich. Wenn ich nicht mehr gehen kann, gehe ich.» Zutreffend ist der leicht variierte Satz zurzeit auch auf Theater, Konzert- und Opernhäuser: «Wenn ich noch hingehen kann, bleibe ich zu Hause. Wenn ich nicht mehr gehen kann, möchte ich hingehen.»
So jedenfalls war es im ersten Lockdown, damals im Frühling 2020. Gerade mal drei Monate war alles zu – und alle wollten irgendwo hingehen: in die Oper, ins Theater, ins Konzert oder ins Kino. Das Bild änderte sich im Laufe der Monate. Das Parkett wurde zum Sofa, die Bühne zum Bildschirm, das Stadttheater zu Netflix, Mozarts «Don Giovanni» zur Serie «The Last Dance».
Ohne Abonnenten bleibt der Saal halb leer
Das kriegten alle zu spüren, die im Herbst 2020 wieder spielten – und vor allem spüren es jene, die in diesen Wochen den Vorhang hochgehen lassen. Die Leute gehen nicht mehr so gerne hin. Wer keine Abonnenten hat, ist fast chancenlos, seinen Saal zu füllen. Mainstream wie der Kinofilm «Spiderman» zieht nicht nur im Kino. Das ist das eine Problem. Das andere ist verborgener.
Kurz vor Weihnachten war in einer Zeitung der CH Media ein Titel zu lesen, der einen Shitstorm auslöste. Harmlos ermunternd hiess es da: «Gehen Sie mit Ihren Kindern ins Theater! Jetzt ist die beste Zeit dazu.» Die ganze Corona-Aktualität betrachtend, tönte das erschreckend, schickte man doch damals Schüler zum Teil frühzeitig in die Weihnachtsferien, und die Fallzahlen waren rasant am Steigen. Und gerade da riefen die Kulturjournalisten dazu auf, Kindervorstellungen zu besuchen.
«Das ist ironisch gemeint, oder?», hörte ich am Montagmorgen, und die Entrüstung hinter der Frage war zu spüren wie ein sich nähernder Tornado. Ich begann, nüchtern zu argumentieren, sagte, dass es momentan BAG-konform sei, mit Kind und Kegel ins Theater zu gehen, und fügte an, dass Kindertheater nun mal nicht im Mai gespielt werden. «Jetzt ist die beste Zeit, um Kinder mit dem Theatervirus zu infizieren.» Die Antwort war heftig. Als ich weiter nach Argumenten suchte, hiess es: «Ihr lebt schon in einer anderen Welt.» «Ihr», das waren wir, wir Kulturmenschen, wir Kulturjournalisten.
Kein Homeoffice für Tenöre und Chöre
Jeder aber, der dieser Tage ins Theater geht, gehört auch zu diesem «wir»: wir, die nach wie vor ins Konzert und ins Theater strömen. Und dazu gehören «sie», sie, die mit von der Stirne rinnendem Schweiss und allen möglichen Covid-19-Vorsichtsmassnahmen den Bühnen- und Konzertzauber ermöglichen: die Künstlerinnen und Künstler. Für jene, die Opern sehen wollen, wird gespielt. Was sollten die Häuser denn auch sonst tun? Für Sopranistinnen, Tenöre und Chöre gibt es kein Homeoffice, ohne Publikum ist ihr Beruf wertlos. Da mochte im Lockdown noch so viel gestreamt worden sein. Theater, Konzert und Opern zu streamen, ist kein Ersatz. Sollten die Künstler demnach dieser Tage von sich aus wieder den Stecker ziehen? Sie, die nur spielen können, da wir ihr Tun bezahlen? Das geht nicht, ausser die Politik beziehungsweise die Behörden empfehlen es ihnen – oder befehlen es ihnen. Dann werden sie es tun. Und gleichzeitig wissen: Kaum schweigen sie, schimpft das Publikum. Wie damals im Lockdown. Warum macht ihr nicht Kammermusik? Warum spielt ihr nicht im Freien? Schimpfen, jammern, verzweifeln. Dann können wir alle wieder «Corona ist ein Arschloch» twittern.
Die Moralkeule schwingt immer mit
Doch wer dieser Tage nach wie vor Kulturveranstaltungen besucht, in der Folge auch den öffentlichen Verkehr braucht, gar vorher im Restaurant isst, dem weht bisweilen ein eisiger Wind entgegen: «In Zeiten von vollen Intensivstationen geht ihr in die Oper?» Diese Moralkeule verfehlt nichts, sie ist kein Aufruf zur Eigenverantwortung, sondern zum freiwilligen Lockdown. Der ungesagte Zusatz lautet: Schule und Arbeit sind wichtig, Kultur unwichtig. Erweitert heisst das: «Solange Menschen an Covid sterben, dürft ihr nicht in die Oper gehen.» Still denke ich dann jeweils trotzig: Eine Stunde Mozart kann auch mal unnütz sein. Aber es ist sicher, dass eine Stunde Mozart fast immer genauso wichtig wie eine Schulstunde sein kann.
Aerosol-Studien, die noch im Sommer 2021 beweisen sollten, wie «sicher» etwa der Konzertsaal im KKL ist, haben mich nie interessiert. Aber Kulturmenschen sind dennoch keine Verrückten, schon gar keine Covid-19-Leugner – im Gegenteil. Ich würde behaupten, dass unter den Opern- und Theatergängern ein enorm hoher Anteil geimpft ist – geimpft sein muss.
Opernbesuch so lange wie möglich
Vielleicht aber ist es mit den Kulturmenschen wie mit Othello, der nicht eifersüchtig, sondern bloss vertrauensselig ist. Puschkin hat das mal geschrieben. Othello ist ein grundguter Mensch, hört aber zu sehr auf Jago, wird erst durch seine Worte zum Mord aus Eifersucht getrieben. Wir Kulturmenschen hören auf die Behörden. Und somit verfolge ich meine Passion weiter. Ich gehe zwei Mal in der Woche in die Oper und ins Konzert, weise auf dem Weg dorthin im Tram und Zug Maskenverweigerer zurecht. Und danach mach ich dasselbe im Konzertsaal und im Theater. Dort, am Ort der Gedankenanarchie, helfen die Ermahnungen; im Zug, dem Staatsbetrieb, leider fast nie.
Somit: «Wenn ich noch in die Oper gehen kann, gehe ich. Wenn ich nicht mehr gehen kann, bleibe ich zu Hause.»