«Anna Bolena» im März in Wien, «Anna Bolena» im Mai in Zürich – und «Anna Bolena» im Juni in Sils-Maria? Martin Grossmann, Präsident und Geschäftsführer der Opera St. Moritz, verzieht das Gesicht. «Zürich hätte nicht auch noch sein müssen. Wir hatten die Oper schliesslich zuerst programmiert.» Ob die Opernhaus-Inszenierung einen Einfluss auf die Silser Besucherzahlen hat? Kaum. Sicher ist aber, dass die Besucher etwas ganz anderes erwartet als in Zürich oder in Wien. «Bei uns sitzt der Gast mitten drin in der Oper», sagt der 1953 in Zürich geborene Martin Grossmann. «Derjenige, der nach der Aufführung hier bleibt, trifft die Musiker beim Nachtessen nochmals an.»
Opera St. Moritz bietet zum zwölften Mal eine etwas andere Opernproduktion. Dass es dabei auch ums Wohlfühlen, ums luxuriöse Drumherum geht, verschweigt der Präsident nicht. Ursprüngliches Ziel war es, in einem der berühmten 5-Sterne-Hotels eine unbekannte Oper zu spielen und danach den Abend mit einem Galadinner abzurunden. Eine reizvolle Kombination, ja, fast ein romanreifer Genuss, wenn im legendären Badrutt’s Palace Opern- und Hoteltraumwelt ineinanderfliessen.
Je nach Finanzlage wurde das Ansinnen, unbekannte Opern zu spielen, auch mal aufgeweicht. Mit Kassenschlagern hat sich Opera St. Moritz 2009 und 2010 jedenfalls so gesund kuriert, dass nun mit Gaetano Donizettis «Anna Bolena» wieder ein unbekanntes Werk ansteht – Anna Netrebkos Wiener oder Elina Garancas Zürcher Auftritte hin oder her. Grossmann ist zuversichtlich, dass er – nach dem Topjahr 2010 – erneut 3000 Gäste zählen kann, und dass somit sein Budget von einer Million Franken im Lot bleibt. «Es ist reine Rappenspalterei», jammert er genüsslich, «jede Rechnung geht über meinen Tisch, keiner darf 1000 Franken einfach so ausgeben.»
Kaufmann und Künstler
Kein Wunder, diskutiert der studierte Ingenieur und Ökonom jeweils auch heftig mit seinem künstlerischen Leiter, dem 46-jährigen Dirigenten Jan Schultsz, darüber, was gespielt wird. Die Rollen sind klar verteilt: «Ich bin der Kaufmann, Jan der Künstler.» Und trotz enormer Opernbegeisterung, vielmehr Opernliebe, behandelt Grossmann sein Festival auch wie ein Produkt. Die Ausgabe 2009 im wieder eröffneten Maloja Palace lief zwar zuschauermässig ideal, zufrieden war Grossmann am Ende dennoch nicht. Das Hotel bot für die Sponsor-Gäste zu wenig. «Wir haben nun mal zwei Märkte,
die wir bedienen wollen: ‹Normale› Gäste und Sponsor-Gäste.» Ohne Sponsoren keine Oper – rund 50 Prozent des Budgets sind durch sie gedeckt.
Doch wohin, wenn nicht wieder ins Kulm oder ins Badrutt’s Palace? Grossmann klopfte 2010 im legendären Waldhaus in Sils-Maria an und erhielt die Tennishalle, die man mit viel Aufwand in ein Opernhaus verwandelte. Nun kehrt man dorthin zurück, und die Aufführungen finden in einem Tophaus statt, dem gar eine spezielle kulturelle Aura eigen ist. Regisseur Christoph Marthaler hat diese 2008 mit «Theater mit dem Waldhaus» beschworen. Sils sei zudem, so Grossmann, die kulturaffinste Gemeinde des Engadins. «Wir haben Bauern bis ins hinterste Fextal, die uns helfen und bei denen wir in den Ställen unsere Sachen einlagern können.»
Viel ist auch dank der Hotelinfrastruktur möglich: Ob in
den St. Moritzer Luxus-Häusern oder in Sils-Maria – das Festival bezahlt keinen Rappen und erhält doch einen Saal zum Opernspielen und Zimmer für die Künstler. Nebenbei auch ein Genuss und Anreiz für manche Sänger, überhaupt mitzumachen: Wo lässt es sich für angehende Opernstars oder Sänger aus der zweiten Reihe schon in so schöner Umgebung – inklusive von Grossmann überreichtem Bergpass! – zwei Wochen in einem 5-Sterne-Haus logieren? Das Hotel erhält dafür viel zurück. In den zwei Festivalwochen verkauft man rund 800 Galadinners. Und das Waldhaus ist dank der Operngäste ausgebucht.
Expansion in Sicht
Seit einigen Jahren spielt Opera St. Moritz nicht nur im Engadin, sondern auch im Wenkenhof in Riehen bei Basel. Für gewöhnlich wandert die Engadiner Produktion nach einem Jahr hinunter an den Rhein. 2011 gibts aber eine Ausnahme, und man zeigt in Riehen in einer Co-Produktion die Schweizer Erstaufführung der Originalfassung von Gioacchino Rossinis «L’equivoco stravagante». Neue Co-Produktionen sind geplant, eventuell expandiert Opera St. Moritz bald nach Bremen. Und wer Martin Grossmann auf diese Bemerkung hin verwundert anschaut, erfährt, dass er den Marketingdirektor des einflussreichen «Weser-Kuriers» beim Skifahren in
St. Moritz kennengelernt hat. So läuft das bei Opera St. Moritz und ihrem Impresario, pardon: Präsidenten.