Soll ich der Frau, die da an der Tür zum Theater steht, tatsächlich das Codewort «Oper von unten» sagen? Ist das die Dame vom Einlassdienst? «Treffpunkt: Garderobe links (Erdgeschoss), 19.15 Uhr», hiess es im Mail vom Presseverantwortlichen. Auf meine schriftliche Frage, ob man wie die Orchestermusiker schwarz gekleidet sein müsse, mit dem Zusatz versehen: «Schwarze Kleidung ist nicht erforderlich.» Es geht also nicht zu einer schwarzen Messe, aber an einen verbotenen Ort. Das macht nervös.
Wasser mit Glas – und Ohropax
Das Kribbeln verdanke ich einem Projekt der munteren Luzerner Theatermacher: «Oper von unten» bietet die Möglichkeit, eine Produktion im Orchestergraben zu erleben. Der Gast taucht ab in jenen geheimnisumwitterten Schlund, von dem der Opernfreund eigentlich nichts wissen will, nichts wissen darf. Dort unten entstehen Träume, dort wuchern die dämonischen Wurzeln des Liebeswahnsinns von Tristan und Isolde. Aber ist es nicht entzaubernd, zuzusehen, wie der Zaubertrank gebraut wird?
120 Franken für die Karte sind viel. Aber das Theater verkauft Exklusivität: Es gibt nur zwei Plätze pro Abend. Ein Angebot für jene, die schon alles gesehen haben?
Und wir sind richtig. Die Begleitung und ich erhalten von der Dame einen «Roméo et Juliette»-Klavierauszug, ein Programm, eine Flasche Wasser mit Glas – und Ohropax. Nach zwei Türen und einem Korridor geht es eine kurze Treppe hoch – und wir sind drin im Graben. Zauberhaft ist hier nichts. Im Gegenteil. «Wenn es Ihnen zu viel wird, finden wir im Saal noch einen Platz», sagt die Dame vom Einlassdienst. Trost? Warnung?
Am hintersten, linken, leicht erhöhten Pult der ersten Geigen ist unser Platz. Das kann wechseln: Die zwei Plätze werden bei den angebotenen Opernproduktionen gemeinsam mit dem Orchesterwart definiert, sodass diese das bestmögliche Erlebnis bieten, ohne dabei den regulären Vorstellungsbetrieb zu beeinträchtigen. Intendant Benedikt von Peter hat das Angebot mit dem Orchestervorstand besprochen und an der Vollversammlung vorgestellt. Das Angebot fand bei den Musikern des Luzerner Sinfonieorchesters grossen Anklang. «Oper von unten» wurde auch mit den musikalischen Leitern der jeweiligen Produktionen entsprechend abgestimmt.
Das Orchester erzählt unten ein eigenes Drama
Direkt oberhalb unseres Platzes ist der Bühnenboden, es folgt ein Fangnetz und schliesslich die kaum vier Meter breite Öffnung, durch die der Orchesterklang in den Zuschauerraum und auf die Bühne zu den Sängern aufsteigen wird. Noch ist erst die ihr Instrument stimmende Harfenistin da. Hinter ihr gilt es, Platz zu nehmen. «Guten Abend», sagt alsbald jener Geiger, der rechts neben uns sitzen wird. Dann richtet man sich rundum ein – und aus den Menschen, die draussen in den Gängen eben noch plauderten und lachten, wird eine abstrakte Gemeinschaft: Das Orchester wird routiniert sein Handwerk verrichten und dennoch die schönsten Liebestöne erzeugen. Halb sezieren wir sie über die Schultern der Musiker hinweg, halb geniessen wir sie.
Um 19 Uhr 31 stürmt Dirigent Alexander Binder zum Pult, die Zuschauer applaudieren. Sie sind wegen der Sopranistin Regula Mühlemann hier. Die singende Luzernerin gibt oben eine bezaubernde Juliette. Unten hören wir sie gut, sehen tun wir sie nicht. Da aber die Handlung von «Roméo et Juliette» einfach gestrickt ist, kann sich unten jeder vorstellen, was oben gerade abgeht. Und hier im Graben erzählt uns das Orchester ein eigenes Drama. Hier, wo Kabel, schwarze Wände und an den Rändern Spinnweben vorherrschen, muss man eine Gemeinschaft werden.
Es ist schon die 13. Vorstellung, aber wie am Schnürchen läuft unten nichts, denn oben agieren Menschen. Da der Tenor krank ist, tritt ein kurzfristig engagierter Einspringer auf: Es gilt, sich ihm anzupassen. Nach seiner Arie erhält das Orchester spontan Lob vom Dirigenten: «Gut gemacht!» Wie gut der Sänger tatsächlich war, ist unten egal.
Und plötzlich gehört man dazu
In der Pause meint eine Zuhörerin von oben, die nicht weiss, wo wir sitzen: «Schade, hat das Orchester während der Tenorarie so laut gespielt.» «Zu laut?!», frage ich empört und löse bei ihr Verwunderung über meinen Gefühlsausbruch aus. «Wir» erfüllten, was der Dirigent wollte, denke ich und ziehe mich wieder zurück in den faszinierenden Orchestergraben: Ab morgen werde ich wieder oben über das Orchester urteilen. Heute aber bin ich unten staunender Gast im verbotenen Ort, nehme zum Schluss gar den Applaus von oben entgegen.
Oper von unten
«Don Giovanni» Bis Sa, 8.6.
«Die Grossherzogin von Gérolstein» Ab Sa, 13.4.
Luzerner Theater
Im Ticketshop als «Plätze im Orchestergraben» buchbar.