kulturtipp: Sie eröffnen die neue Intendanz am Theater Basel mit einem zwar 35-jährigen, aber noch immer modern klingenden Stück, das die klassischen Opernerwartungen kaum befriedigt. Ist das ein Wagnis?
Clemens Heil: Vielleicht, und dafür ist das Theater da! Wir erleben mit, wie ein Mensch heilig wird. Es geht um ein fundamental anderes Konzept von Musik, als wir es klassisch kennen. Das Prinzip der Entwicklung, von Spannung und Entspannung, von Dissonanz und Konsonanz, gilt bei Messiaen nicht. Klänge und Rhythmen werden atomisiert und neu zusammengesetzt. Melodien und feste Takte sind aufgelöst, an gewissen Stellen spielen alle Musiker in anderem Tempo. Da kann es musikalisch auch nicht mehr darum gehen, wie sich die Figuren seelisch entwickeln. Dafür wird erzählt, was Musik mit uns macht. Im besten Fall haben wir da Teil an der Heiligwerdung. Es geht um Trance, Schönheit, Lust – die grossen Fragen und Themen, die Messiaen in eine ganz eigene Form brachte und womit er sich ganz bewusst gegen die Avantgarde seiner Zeit stellte.
Das klingt sehr spirituell und herausfordernd, auch fürs Publikum.
Als Hörer hatte ich zuerst auch meine Probleme mit Messiaen, weil wir alle auf die musikalische Entwicklung geeicht sind. Sein «Saint François» ist zweifellos ein zentrales Musiktheaterwerk der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das wir jetzt zum ersten Mal in der Schweiz aufführen. Dabei erweitert er ganz grundsätzlich den Bereich, was Musiktheater kann und will – wenn es nicht missverständlich wäre, könnte man das Stück fast ein Oratorium nennen, das eine ganz eigene Erfahrung von Musik ermöglicht. Unsere Inszenierung schafft dazu einen sehr realen szenischen Kontrapunkt.
Als Dirigent sagen Sie «unsere Inszenierung»?
Es kann gar nicht genug inhaltliche Reibungsfläche zwischen Musik und Szene geben! Die Widersprüche zwischen Musik und Text finde ich extrem spannend. Interessantes Musiktheater entsteht durch die Auseinandersetzung um Farben, um Tempi. Und das ist immer Teamwork. Benedikt von Peter als Regisseur setzt der Abstraktheit der Musik eine sehr konkrete Situation gegenüber. Der Komponist erzählt oder malt aus, wie dieser Franz von Assisi zum Mönch und Heiligen wurde, aber er war auch der Auslöser einer Jugendbewegung. So kommt unmittelbar der menschliche Aspekt wieder hinein. Diesen Kontrast erhöhen wir noch dadurch, dass wir den Theaterraum anders bespielen.
Damit haben Sie am Luzerner Theater, zusammen mit von Peter als Regisseur, ja schon einige Erfahrung gesammelt. Ist Ihre gemeinsame Basler Eröffnung also etwas wie die Fortsetzung der Luzerner Eröffnung 2016, als das Publikum auf Liegestühlen und Matratzen Luigi Nonos «Prometeo» hörte und dabei von den Klängen förmlich umgeben war?
Nein, das würde ich nicht sagen. «Prometeo» war eigentlich eine Klanginstallation – ähnlich wie sie im Mittelalter und Barock etwa im Markusdom in Venedig üblich war. Da waren die Musiker auch schon im ganzen Raum verteilt. Jetzt in «Saint François» gibt es dazu eine eindeutige szenische Interpretation. Die Zuschauer sitzen vereinzelt, das Orchester auch. Dieses Konzept entwickelten wir lange vor Corona – jetzt kommt es uns entgegen.
Wie lösen Sie das Problem der Distanz und des grossen Orchesters?
Das gibt uns nach wie vor Arbeit. Die Proben sind wie bei einer Uraufführung. Messiaen hatte von der Pariser Oper alle Mittel zur Verfügung, die er wollte. Entsprechend gross ist das Orchester besetzt. Ich glaube, wir hätten auch unter normalen Umständen gar nicht alle Instrumentalisten in den Graben gebracht. Wir haben im Juli entschieden, dass wir eine neue Fassung des Orchestersatzes machen lassen. Statt weit über 100 brauchen wir jetzt nur noch etwa 40 Orchestermusiker. Die Erben sind damit einverstanden, und der argentinisch-russische Komponist Oscar Strasnoy hat innert kürzester Frist alles umgearbeitet. Messiaen war Organist, die sind sich gewohnt, ihre Stücke auf die Gegebenheiten des Instrumentes anzupassen. Wir haben darum auch neu registriert.
Andere Theater übertragen das Orchester über Lautsprecher oder nehmen es sogar auf. Haben Sie sich das auch überlegt?
Das kommt für uns nicht infrage. Wir wollen den Akt des Musizierens auch zeigen, und Live-Orchester ist nicht ersetzbar. Auch wenn die Distanz vielleicht Präzision kostet, was wir an Unmittelbarkeit gewinnen, ist wichtiger. Und das Stück spricht von Angst und ihrer Überwindung, hat eine Kraft, die im besten Fall euphorisieren kann, sodass wir das gerade jetzt unbedingt spielen wollen.
Saint François d’Assise
Premiere: Do, 15.10., 19.00 Theater Basel
Schweizer Erstaufführung
Der französische Komponist Olivier Messiaen (1908–1992) gehört zu den grossen Namen der Musik des 20. Jahrhunderts. Sein «Saint François d’Assise» erzählt mit wenig äusserlicher Handlung, wie der Heilige Franziskus stirbt und zum Heiligen wird. Uraufgeführt 1985, fordert das Werk einem Opernhaus auch 35 Jahre später noch einiges ab und wird nur selten gespielt. Das Thea-ter Basel zeigt die Schweizer Erstaufführung, weil es der Opéra de Genève zuvorkommt, die diese Erstaufführung im Sommer absagen musste.
Clemens Heil
Der deutsche Dirigent Clemens Heil kann als Spezialist für spezielle Musiktheaterprojekte bezeichnet werden – oft realisiert er sie zusammen mit dem neuen Basler Intendanten, dem Regisseur Benedikt von Peter: von 2012 bis 2016 in Bremen, seit 2016 als Musikdirektor in Luzern. Hier hat er Luigi Nonos «Prometeo» ohne Trennung von Zuschauerraum und Bühne und Schumanns «Faust-Szenen» als Prozession umgesetzt. In Basel dirigiert Clemens Heil mit Messiaens «Saint François d’Assise» zum ersten Mal.